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Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling

Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling

Titel: Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Flewelling
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der Stadt all der Klatsch über Geister und Heimsuchungen auf. Nach einer Weile sprach niemand von uns mehr darüber.« Er schüttelte den Kopf. »Ich dachte immer, er hätte selbst etwas zu dir darüber gesagt. Mir stand das nicht zu.«
    Er hob den Riegel einer Tür unmittelbar gegenüber der Treppe an. »Hier ist es, Tobin, das Zimmer, in dem du geboren wurdest.«
    Der Boden des Flurs war frisch mit Binsen ausgelegt worden, und es roch nach Duftkräutern und Lampenöl. Im Zimmer selbst jedoch stieg Tobin der schale Geruch eines seit Langem leerstehenden Raums in die Nase. Die Fensterläden standen offen, dennoch wirkte die Kammer bedrückend und kalt. Eine Gänsehaut überzog seine Arme, als er eintrat.
    Es war unverkennbar das Zimmer einer Frau gewesen. Ein paar Behänge zierten noch die Wände – verblasste Bildnisse von Meerestieren und Jagden im Wald. In den Kaminsims war eine Fischart geschnitzt, was sehr hübsch aussah, doch es befanden sich keine Ziergegenstände oder Puppen darauf, und der Kamin selbst war kalt und voller Ruß.
    Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes stand Bruder am Fuß eines hohen Himmelbetts mit einer kahlen Matratze. Nun war er nackt, und Tobin konnte wieder jene blutverkrustete Naht auf seiner Brust erkennen. Während Tobin ihn beobachtete, stieg er in das Bett und legte sich auf den Rücken. Dann war er verschwunden.
    »Weißt du, wie mein Bruder gestorben ist?«, fragte Tobin leise, der immer noch auf das Bett starrte.
    Tharin sah ihn an. »Nari sagt, es war eine Totgeburt. Hat nie einen Atemzug getan. Aber es war kein Junge, Tobin. Es war ein kleines Mädchen.«
    Ki bedachte ihn mit einem fragenden Blick, der anzudeuten schien, dass Tobin doch Tharin ruhig die Wahrheit sagen könnte. Doch dann erschien Bruder wieder. Er stand zwischen ihnen und hatte einen Finger an die Lippen gehoben. Tobin sah Ki mit einem Kopfschütteln an und schwieg.
    Stattdessen wandte er sich von beiden ab und suchte in dem leeren Zimmer nach einem Anzeichen auf seine Mutter. Wenn sie sich in der Nacht seiner Geburt so schrecklich verändert hatte, dann gab es hier vielleicht irgendeinen Hinweis darauf, wie sie davor gewesen war – etwas, das ihm helfen würde zu verstehen, weshalb sie sich so verwandelt hatte.
    Doch er fand nichts, und plötzlich wollte er nicht mehr hier sein.
    Die übrigen Räume entlang des Flurs boten dasselbe Bild: Sie alle standen leer und enthielten nur noch die größeren Möbel. Je mehr Tobin sah, desto einsamer fühlte er sich, wie ein Fremder, der einen Ort durchstreifte, an den er nicht gehörte.
    Tharin musste dies gespürt haben. Er schlang einen Arm um Tobins Schultern und sagte: »Komm mit zurück hinunter. Dort gibt es einen Ort, der wird dir, so glaube ich, besser gefallen.«
    Sie gingen hinunter, durch die Halle und einen kurzen Flur entlang zu einem behaglichen Schlafgemach mit dunkler Täfelung. Tobin erkannte auf Anhieb, dass es einst das seines Vaters gewesen war. Rhius war zwar seit Monaten nicht mehr hier gewesen und würde nie zurückkehren, dennoch vermittelte dieses Zimmer noch ein Gefühl von Leben. Die schweren, dunkelroten Vorhänge um das Bett glichen jenen in der Feste. Auf einer Truhe stand ein vertrautes Paar Schuhe. Neben einem Elfenbeinbildnis von Tobin lag auf dem Schreibtisch ein in schwungvoller Schrift verfasster, halb beendeter Brief, der sich leicht eingerollt hatte. Tobin atmete die vertraute Mischung von Gerüchen ein: Siegelwachs, geöltes Leder, Rost, Kräuter und seines Vaters eigenen, herzlichen, männlichen Duft. Auf einer Ablage neben dem Schreibtisch fand Tobin ordentlich nebeneinander aufgereiht eine Sammlung seiner Wachs- und Holzfiguren vor, die er seinem Vater im Lauf der Jahre geschenkt hatte. Er hatte sie ebenso aufgehoben wie Tobin die Andenken, die sein Vater ihm geschickt hatte.
    Schlagartig kehrte der Schmerz des Verlustes, den im Zaum zu halten ihm bisher gelungen war, mit voller Wucht zurück. Tobin biss die Zähne zusammen und kämpfte dagegen an, doch die sengenden Tränen lösten sich trotzdem und blendeten ihn, als er zu Boden sank. Starke Arme fingen ihn auf; nicht die seines Vaters, sondern jene Tharins, die ihn festhielten und ihm auf den Rücken klopften, wie er es getan hatte, als Tobin noch sehr klein gewesen war. Auch eine andere Hand ruhte auf seiner Schulter, und diesmal schämte er sich nicht dafür, vor Ki Schwäche zu zeigen. Mittlerweile glaubte er ihm; selbst Krieger mussten trauern.
    Er weinte, bis

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