Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
hing herab und verdeckte sein Gesicht. Er wirkte so verzweifelt, dass sich Tobin ihm langsam näherte und sich fragte, woran dies liegen mochte. Er befand sich nur noch wenige Schritte entfernt, als Bruder das blasse, tränenverschmierte Gesicht anhob und mit einer trockenen, erschöpften Stimme flüsterte, die Tobin noch nie zuvor gehört hatte: »Das ist der Ort.« Dann verblasste er wieder und wurde unsichtbar.
Verdutzt starrte Tobin den Baum an und überlegte, was so bemerkenswert an dieser Stelle sein mochte. Den Zusammenhang mit dem Bett hatte er noch verstanden; Bruder war darauf tot zur Welt gekommen und schien sich daran zu erinnern. Aber warum dieser Hof oder dieser Baum? Er schaute zurück zu dem Platz, an dem Bruder gehockt hatte, und erspähte unter einer der Wurzeln eine kleine Öffnung. Er kauerte sich hin und sah sie sich genauer an. Sie erwies sich als größer, als er auf den ersten Blick vermutet hatte; acht oder zehn Zoll breit und ein paar Zoll hoch. Tobin fühlte sich an jene Orte erinnert, nach denen er früher im Wald als Versteck für die Puppe gesucht hatte.
Die Erde fühlte sich sandig und hart an, gut geschützt von dem Baum. Neugierig fasste er hinein, um zu sehen, ob es in dem Loch so trocken war, wie es von außen schien.
»Da könnten Schlangen drin sein«, warnte ihn Ki, der sich neben ihn hockte.
Das Innere war größer, als er gedacht hatte, groß genug für die Puppe, hätte er sie durch die Öffnung zu zwängen vermocht. Seine Finger ertasteten keine Schlangen, nur ein paar spitze Kastanienschalen zwischen Laub. Als er jedoch seine Hand zurückziehen wollte, strichen seine Finger über eine abgerundete Kante. Er verharrte darauf und fand genug Halt, um den Gegenstand aus der Erde zu ziehen. Als er ihn aus dem Loch hervorholte, sah er, dass es sich um einen goldenen Ring handelte, besetzt mit einem geschliffenen Edelstein ähnlich jenem, den ihm Fürst Orun geschenkt hatte. Tobin rieb ihn an seinem Ärmel, um ihn zu säubern. Der große, flache Stein wies dasselbe dunkle Violett wie der Kelch einer Schwertlilie und die eingeschnittenen Umrisse eines Mannes und einer Frau auf, Seite an Seite, die Frau zuoberst.
»Bei den Flammen, Tobin, ist das nicht dein Vater?«, fragte Ki, der ihm über die Schulter spähte.
»Und meine Mutter.« Tobin drehte den Ring in den Händen herum und entdeckte an dem Goldreif hinter dem Stein ein eingraviertes A und R .
»Ich will verflucht sein; Bruder muss gewollt haben, dass du ihn findest. Schau nach, ob da noch etwas ist.«
Tobin tastete erneut, doch in dem Loch befand sich sonst nichts.
»Da seid ihr ja!«, rief Tharin aus, der auf den Hof herauskam. »Was macht ihr den da auf dem Boden?«
»Sie nur, was Tobin unter diesem abgestorbenen Baum gefunden hat«, sagte Ki.
Tobin zeigte ihm den Ring, und Tharins Augen weiteten sich. »Es ist etliche Jahre her – Wie ist der hier herausgelangt?«
»Hat er meiner Mutter gehört?«
Der große Mann setzte sich, nahm den Ring von Tobin entgegen und betrachtete die beiden Umrisse auf dem Stein. »O ja. Es war ihr Lieblingsstück unter den Verlobungsgeschenken, die sie von deinem Vater bekam. Das ist eine Aurënfaie-Arbeit. Wir sind bis nach Viresse gesegelt, nur damit er ihn von den besten Handwerkern für sie anfertigen lassen konnte. Ich erinnere mich noch an ihren Gesichtsausdruck. Wir haben nie herausgefunden, was aus dem Ring und einigen anderen Dingen von ihr geworden war, nachdem sie krank wurde.« Er blickte auf das Loch hinab. »Was glaubst du, wie er hier draußen gelandet ist? Na ja, eigentlich spielt es keine Rolle. Jetzt ist er gefunden, und er gehört dir. Du solltest ihn zu ihrem Gedenken tragen.«
Da er zu groß für Tobins Finger war, hängte er ihn an die Goldkette zum Siegel seines Vaters, dann sah er sich erneut das eingeschnittene Bildnis an. Seine Eltern wirkten jung und hübsch zusammen, ganz und gar nicht wie die von Gram geplagten Menschen, die er gekannt hatte.
Tharin griff hinab und legte sich den Ring und das Siegel zusammen auf die Handfläche. »Jetzt trägst du etwas von ihnen beiden dicht am Herzen.«
K APITEL 43
Die folgenden Wochen verstrichen als glitzernder Schemen. Das Leben in der Feste hatte keinen der beiden Jungen auf solche Gesellschaft vorbereitet, wenngleich zunächst keiner den anderen mit seinen Zweifeln belästigen wollte.
Jeden Morgen liefen die Gefährten zum Tempel, um ihre Opfergaben darzubringen, dann arbeiteten sie unter Porions
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