Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
jedoch blieb sie um des Kindes willen. Ihre Milch floss in Strömen, sobald sie das dunkelhaarige Würmchen an ihre Brust legte, und mit ihr all die Zärtlichkeit, die sie verloren geglaubt hatte, als ihr Mann und ihr Sohn gestorben waren. Der Erschaffer wusste, weder die Prinzessin noch ihr Gemahl hatten davon etwas für das arme Kind zu erübrigen.
Sie alle mussten Tobin als ›er‹ und ›ihn‹ bezeichnen. Und dank der seltsamen Magie, die von der Hexe mit ihren Messern und Nadeln gewirkt worden war, erschien Tobin nach außen hin wie ein prächtiger, gesunder Knabe. Er schlief gut, sog voll Inbrunst und schien sich über jegliche Aufmerksamkeit zu freuen, die ihm geschenkt wurde, was von Seiten seiner eigenen Familie herzlich wenig war.
»Sie werden ihr Verhalten noch ändern, mein kleiner Schatz«, säuselte Nari ihm regelmäßig zu, wenn er zufrieden in ihren Armen schlummerte. »Wie könnten sie auch nicht, wo du doch so süß bist?«
Während jedoch Tobin blühte und gedieh, sank seine Mutter immer rascher in eine zutiefst düstere Gemütsverfassung. Das Fieber verging, dennoch blieb Ariani im Bett. Immer noch wollte sie ihr lebendes Kind nicht berühren, und ihren Gemahl sah sie nicht einmal an, ebenso wenig ihren Bruder, wenn er ihr einen Besuch abstattete.
Herzog Rhius schien der Verzweiflung nahe. Er saß stundenlang bei ihr, ertrug ihr Schweigen und holte die geachtetsten Drysier aus Dalnas Tempel herbei, doch die Heiler fanden keine Krankheit des Körpers, gegen die sie etwas zu bewirken vermocht hätten.
Am zwölften Tage nach der Geburt jedoch ließ die Prinzessin erste Anzeichen einer Besserung erkennen. An jenem Nachmittag fand Nari sie zusammengekauert auf einem Lehnstuhl neben dem Feuer vor, wo sie eine Puppe nähte. Auf dem Boden rings um sie lagen Musselinreste, Stopfwollknäuel, Stickseideschnipsel und Fäden verstreut.
Bei Einbruch der Nacht war die neue Puppe fertig – ein Knabe ohne Mund. Am nächsten Tag folgte eine wei tere Puppe wie die erste, dann noch eine. Ariani scherte sich nicht darum, ihre Schöpfungen anzukleiden, sondern warf sie beiseite, sobald der letzte Stich verknüpft war, um mit einer weiteren zu beginnen. Gegen Ende der Woche säumte ein halbes Dutzend der Puppen den Kaminsims.
»Sie sind sehr hübsch, Liebste, aber warum machst du die Gesichter nicht fertig?«, fragte Herzog Rhius, als er eines Abends pflichttreu an ihrem Bett saß.
»Damit sie nicht weinen«, zischte Ariani, deren Nadel hin und her sauste, als sie einen Arm an einen mit Wolle gestopften Körper nähte. »Das Weinen treibt mich in den Wahnsinn!«
Nari wandte den Blick ab, um den Herzog nicht in Verlegenheit zu bringen, indem sie seine Tränen sah. Es war das erste Mal seit der Geburt, dass Ariani mit ihm gesprochen hatte.
Dies schien den Herzog zu ermutigen. Noch in jener Nacht ließ er Hauptmann Tharin rufen und begann, vom Vorstellungsfest zu Ehren des Kindes zu reden.
Ariani erzählte niemanden von den Träumen, die sie quälten. Mit wem konnte sie schon reden? Ihre eigene Amme, Lachi, der sie vertraut hatte, war vor Wochen fortgeschickt worden, ersetzt von dieser Fremden, die nicht von ihrer Seite wich. Rhius hatte ihr erzählt, dass Nari irgendwie mit Iya in Verbindung stand, wofür Ariani die Amme nur noch mehr hasste. Ihr Gemahl, ihr Bruder, die Zauberer, diese Frau – sie alle hatten sie verraten. Wenn sie an jene schreckliche Nacht der Geburt zurückdachte, war alles, woran sie sich erinnern konnte, ein Kreis aus Gesichtern, die ohne jedes Mitleid auf sie herabblickten. Ariani verabscheute sie alle.
Anfangs hatten Erschöpfung und Kummer wie ein Stapel dicker Wolldecken auf ihr gelastet, und ihr Geist war in einen grauen Nebel abgetrieben. Tageslicht und Dunkelheit schienen ein Spiel mit ihr zu treiben. Wenn sie die Augen aufschlug, wusste sie nie, was sie erwarten sollte und ob sie wachte oder träumte.
Zunächst dachte sie, dass die schreckliche Hebamme, die Iya mitgebracht hatte, zurückgekehrt sei. Bald jedoch wurde ihr klar, dass es ein Traum oder Einbildung sein musste, die jene dunkle, kleinwüchsige Frau jede Nacht neben ihrem Bett erscheinen ließ. Sie tauchte stets umgeben von einem wabernden Lichtkreis auf, bildete mit den Lippen stumme, an Ariani gerichtete Worte und bedeutete ihr mit dreckigen Fingern, zu essen und zu trinken. Tagelang setzte sich dieses geräuschlose Gestenspiel fort, bis sich Ariani daran gewöhnte. Schließlich begann sie einen Teil
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