Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
Rhius, und Arianis Lächeln erstarb. »Was ist? Gib mir mein Kind.«
»Es war eine Totgeburt, Liebste«, sagte Rhius. »Lass es. Sieh nur, hier ist unser prächtiger Sohn.«
»Nein, ich habe es schreien gehört!«, beharrte Ariani.
Rhius brachte den kleinen Tobin zu ihr, doch sie schenkte ihm keine Beachtung und starrte stattdessen das Kind an, das die Amme hielt. »Gib ihn mir, Weib! Ich befehle es dir!«
Sie ließ sich nicht davon abbringen. Ohne auf das leise Weinen des lebendigen Kindes zu achten, nahm sie das tote in die Arme; ihre Züge wurden noch bleicher.
In jenem Augenblick erkannte Arkoniel, dass Lhels Hexerei die Kindesmutter nicht so zu täuschen vermochte wie die anderen. Er verkrümmte den Geist, um durch ihre Augen zu sehen und erhaschte einen kurzen Blick auf die Hautstreifen, die Lhel auf der Brust jedes Kindes geschnitten und mit spinnwebfeinen Stichen in die Wunde des jeweils anderen Zwillings genäht hatte, unmittelbar über dem Herzen. Mit diesem Austausch von Fleisch war die Verwandlung besiegelt worden. Das Mädchen würde so lange das Erscheinungsbild einer männlichen Gestalt wahren, wie Iya es für nötig hielt, während der tote Bruder die Gestalt seiner Schwester erhalten hatte, um den König zu täuschen.
»Was hast du getan?«, keuchte Ariani und schaute zu Rhius auf.
»Später, Liebste, wenn du dich ausgeruht hast … Gib dieses Kind Nari zurück und nimm deinen Sohn. Siehst du, wie kräftig er ist? Und er hat deine blauen Augen …«
»Sohn? Das ist kein Sohn!«, fiel Ariani ihm mit einem giftigen Blick ins Wort. Alles gute Zureden blieb vergebens. Als Rhius versuchte, ihr das tote Kind abzunehmen, wankte sie aus dem Bett, flüchtete in den fernsten Winkel der Kammer und drückte sich den winzigen Leichnam gegen das besudelte Nachthemd.
»Das ist zu viel!«, flüsterte Arkoniel zischend. Er ging zu der panischen Frau und kniete sich vor ihr hin.
Überrascht sah sie ihn an. »Arkoniel? Schau nur, ich habe einen Sohn. Ist er nicht hübsch?«
Arkoniel versuchte zu lächeln. »Ja, Hoheit, er – er ist vollkommen.« Behutsam berührte er sie an der Stirn, umwölkte ihren Geist und sandte sie wieder in einen tiefen Schlaf. »Verzeiht mir.«
Er griff nach dem kleinen Körper, dann erstarrte er vor Furcht.
Die Augen des toten Kindes hatten sich geöffnet. Im einen Lidschlag schimmerten sie blau, im nächsten verfärbten sie sich schwarz und starrten Arkoniel anklagend an. Der zierliche Leib strahlte eine unverkennbare Kälte ab, die sich langsam ausbreitete und den Zauberer umhüllte.
Dies war der Preis jenes ersten Atemzugs. Die Seele des gemeuchelten Kindes hatte lange genug Einzug in den Körper gehalten, um sich darin einzunisten und ein Geist oder Schlimmeres zu werden.
»Bei den Vieren, was geht hier vor sich?«, stieß Rhius hervor und beugte sich über den Zauberer.
»Es gibt nichts zu befürchten«, beteuerte Arkoniel rasch, wenngleich ihn diese winzige, übernatürliche Gestalt bis in die Tiefe seines Herzens ängstigte.
Nari kniete sich neben ihn und flüsterte: »Die Hexe hat gesagt, du musst ihn rasch wegbringen. Sie meinte, du musst ihn unter einem großen Baum vergraben. Im hinteren Hof neben der Sommerküche steht ein mächtiger Kastanienbaum. Die Wurzeln werden den Dämon bannen. Beeil dich! Je länger er hier bleibt, desto stärker wird er!«
Arkoniel bedurfte des letzten Quäntchen Mutes, das er besaß, um das tote Kind zu berühren. Er löste es aus Arianis Armen, bedeckte das Gesichtchen mit einem Zipfel der Wickel und eilte hinaus. Nari hatte Recht; die Wogen der Kälte, die der leblose Körper aussandte, wurden mit jedem verstreichenden Lidschlag stärker. Sie ließen seine Gelenke schmerzen, als er das Kind die Treppe hinabtrug und damit durch den hinteren Gang des Hauses lief.
Der Mond beobachtete wie ein anklagendes Auge, wie Arkoniel sein verfluchtes Bündel neben dem Stamm des Kastanienbaums ablegte; erneut bildeten seine Lippen die Worte Verzeiht mir . Aber er erwartete keine Vergebung für die Arbeit jener Nacht und weinte, als er seinen Bann wob. Seine Tränen fielen auf das kleine Häufchen Mensch, als er sich bückte und beobachtete, wie es im kalten Schoß der Erde zwischen den knorrigen Wurzeln versank.
Der leise Schrei eines Säuglings drang zu ihm durch die frostige Nachtluft, und ihn schauderte, zumal er nicht wusste, ob der Laut von dem lebendigen Kind stammte oder von dem toten.
K APITEL 3
Trotz all ihrer Macht sind diese
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