Tamir Triad 02 - Die verborgene Kriegerin
Ranai hat mir unlängst etwas ziemlich Überraschendes erzählt.« Kurz blickte sie auf die dösende Zauberin hinab, dann herrschte sie Arkoniel an, als wäre er immer noch ein tollpatschiger, junger Lehrling: »Nun mach schon!«
Arkoniel nahm zwei Stufen auf einmal und zog den staubigen Beutel unter dem Arbeitstisch hervor. Darin befand sich, verhüllt von Zaubern und umrankt von Geheimnissen, die Tonschale, die Arkoniel nie jemand anderem als seinem Nachfolger zeigen sollte. Solange er Iya gekannt hatte, war es ihre Bürde gewesen, eine Verpflichtung, die seit den Tagen des Großen Krieges nur unter dunkelsten Eiden von einem Zauberer zum nächsten weitergegeben wurde.
Der Krieg!, dachte er und sah das erste Anzeichen einer Verbindung.
Iya sah, wie sich Ranais Augen weiteten, als Arkoniel mit dem abgewetzten alten Lederbeutel zurückkehrte.
»Verhüll den Raum, Iya«, murmelte sie.
Iya wob einen Bann, schirmte die Kammer gegen neugierige Augen und Ohren ab, dann nahm sie den Beutel von Arkoniel entgegen. Sie löste die verknoteten Schnüre, holte die Masse aus Seidenwickeln heraus und schlug sie langsam auseinander. Wächterzauber und Schutzbeschwörungen flimmerten und knisterten im Lampenlicht.
Als der letzte Seidenwickel abfiel, stockte Iya der Atem. Ganz gleich, wie oft sie dieses schlichte, grob gearbeitete Ding in den Händen hielt, die Böswilligkeit, die davon ausging, erschütterte sie jedes Mal. Für jemanden, der ohne Magie geboren wurde, war dies lediglich eine einfache Bettlerschale, unglasiert und schlecht gebrannt. Aber ihrem Meister Agazhar war übel geworden, wenn er sie berührt hatte. Arkoniel erlitt in der Gegenwart der Schale sengende Kopfschmerzen und verspürte eine fiebrige Hitze am ganzen Leib. Iya selbst spürte sie wie den Gestank der Ausdünstungen eines verwesenden, aufgerissenen Leichnams.
Besorgt blickte sie zu Ranai und fürchtete sich davor, welche Wirkung die Schale in ihrem geschwächten Zustand auf sie haben könnte.
Die greise Frau schien jedoch stattdessen neue Kraft zu erlangen. Sie hob die Hand und zeichnete einen Schutzzauber in die Luft, dann streckte sie zögerlich die Finger, als wolle sie die Schale ergreifen.
»Ja, es besteht kein Zweifel«, schnarrte sie und zog die Hand zurück.
»Woher wisst Ihr davon?«, wollte Arkoniel wissen.
»Ich war selbst eine Hüterin, eine der ursprünglichen sechs … Ich habe genug gesehen, Iya. Pack sie weg.« Ranai lehnte sich zurück, seufzte tief und blieb stumm, bis das verfluchte Ding wieder sicher eingewickelt war.
»Du hast die Bedeutung des Orakels nur allzu gut verstanden, auch ohne das Wissen, das verloren ging, als dein Meister starb«, sagte sie schließlich zu Iya.
»Ich hingegen verstehe gar nichts«, meldete sich Arkoniel zu Wort. »Ich habe nie etwas von anderen Hütern gehört. Wer sind die sechs?«
Ranai schloss die Augen. »Außer mir sind alle tot. Ich hätte mich deiner Meisterin nie offenbart, aber als ich sah, dass sie den Beutel nicht mehr bei sich hatte, befürchtete ich das Schlimmste. Ihr müsst einer alten Frau ihre Schwäche verzeihen. Wenn ich etwas gesagt hätte, als ihr vor ein paar Jahren in Ylani wart, dann wäre vielleicht …«
Iya ergriff ihre klauengleiche linke Hand. »Schon gut. Ich kenne die Eide, die du geschworen hast. Aber jetzt sind wir hier, und du hast sie gesehen. Was hast du uns zu erzählen?«
Darob schaute Ranai auf. »Für jedes Geheimnis kann es nur einen Hüter geben, Iya. Du hast die Bürde an diesen Jungen weitergereicht. Was ich zu sagen habe, darf nur er hören.«
»Nein, sie hat mir das Bündel nur zur Aufbewahrung gegeben. Iya ist die wahre Hüterin«, warf Arkoniel ein.
»Nein. Sie hat es weitergereicht.«
»Dann gebe ich es zurück!«
»Das kannst du nicht. Der Lichtträger hat ihre Hand gelenkt, ob sie es wusste oder nicht. Du bist jetzt der Hüter, Arkoniel, und was ich zu sagen habe, kann ich nur dir anvertrauen.«
Iya besann sich der geheimnisvollen Worte des Orakels. Dies ist eine Saat, die mit Blut gegossen werden muss. Aber du blickst zu weit. Dann dachte sie an die Vision, die sie an jenem Tag gehabt hatte, eine Vision von einem prunkvollen weißen Palast voller Zauberer, doch aus der Ferne gesehen, und Arkoniel hatte aus einem Turmfenster zu ihr geblickt.
»Sie hat Recht, Arkoniel. Du bleibst hier.« Außerstande, ihn oder Ranai anzusehen, eilte sie hinaus.
Von ihrer eigenen Magie ausgesperrt, sackte sie gegen die Wand und vergrub das Gesicht
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