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Tamir Triad 03 - Die prophezeite Königin

Tamir Triad 03 - Die prophezeite Königin

Titel: Tamir Triad 03 - Die prophezeite Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Flewelling
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einen Boden gab es nicht, nur das schwindelerregende Gefühl einer endlosen Leere. Es war, als schwebe sie am nächtlichen Himmel.
    Je tiefer sie sank, desto kälter wurde die Luft. Sie warf einen weiteren Blick nach oben und bediente sich des schrumpfenden Kreises der Sterne über dem Brunnenloch als Anker für ihre Sicht. Nach scheinbar langer Zeit berührten ihre Füße festen Boden. Mit etwas Mühe fand sie das Gleichgewicht und löste sich von dem Seil. Als sie nach oben schaute, konnte sie das Brunnenloch nicht mehr erkennen. Sie befand sich in vollkommener Dunkelheit.
    Langsam, nach wie vor leicht zittrig auf den Beinen, drehte sie sich um und war froh, zu ihrer Linken einen schwachen Lichtschimmer zu entdecken. Je länger sie hinsah, desto heller wurde er, bis sie den Höhlenboden gut genug sehen konnte, um sich des Weges sicher zu sein. Sie nahm allen Mut zusammen und schritt auf das Licht zu.
    Es stammte von einer Kristallkugel auf einem Dreibein. Zunächst war das alles, was Tamír erblickte, doch als sie sich näherte, sah sie eine junge, dunkelhaarige Frau, die auf einem niedrigen Hocker daneben saß. Ihre Haut wirkte im kalten Licht totenblass, das Haar fiel ihr über die Schultern und sammelte sich pfützengleich auf dem Boden zu beiden Seiten. Trotz der Kälte trug sie nur eine schlichte Leinenbluse. Ihre Arme und Füße waren nackt. Mit den Handflächen auf den Knien saß sie da, den Blick starr auf den Boden vor sich gerichtet. Alle Orakel galten als wahnsinnig, hatte man Tamír beigebracht, aber die Frau wirkte nur nachdenklich – zumindest, bis sie langsam aufschaute.
    Tamír erstarrte. Sie hatte noch nie in so leere Augen geblickt. Es war, als betrachte sie einen lebenden Leichnam. Obwohl der Schimmer, der von der Kugel ausging, unverändert blieb, schienen die Schatten näher zu rücken.
    Die Stimme der Frau erklang gleichermaßen gefühllos, als sie flüsterte: »Willkommen, zweite Tamír. Deine Ahninnen haben mir von deinem Kommen erzählt.«
    Ein silbriger Schein wurde um den Kopf und die Schultern der Frau heller, und ihre Augen suchten wieder jene Tamírs. Nun wirkten sie nicht mehr leer, sondern waren von Licht und einer beängstigenden Inbrunst erfüllt.
    »Sei gegrüßt, Königin Tamír!« Ihre Stimme erklang plötzlich tief und volltönend, und sie erfüllte die Dunkelheit. »Schwarz macht weiß. Übel macht rein. Böses erschafft Größe. Du bist eine mit Blut gegossene Saat, Tamír von Skala. Besinne dich deines Versprechens an die von mir Auserwählten. Hast du dich um den Geist deines Bruders gekümmert?«
    Es war zu viel, um alles auf einmal zu verkraften. Tamírs Beine fühlten sich an, als hätten sie sich in Wasser verwandelt. Sie sank vor der furchterregenden Erscheinung des Lichtträgers auf die Knie. »Ich … ich habe es versucht.«
    »Er steht jetzt hinter dir und weint Tränen aus Blut. Blut umgibt dich. Blut – und Tod. Wo ist deine Mutter, Tamír, Königin der Geister und Schemen?«
    »In dem Turm, in dem sie starb«, flüsterte sie. »Ich will ihr und meinem Bruder helfen. In einer Vision hat er mich aufgefordert, hierher zu kommen. Bitte, sag mir, was ich tun soll!«
    Stille hielt Einzug, so vollkommen, dass es ihr in den Ohren widerhallte. Sie konnte nicht sicher sein, ob das Orakel atmete oder nicht. Während ihre Knie auf dem kalten Stein zu schmerzen begannen, wartete sie. Gewiss hatte sie den weiten Weg nicht nur dafür zurückgelegt, oder?
    »Blut«, flüsterte das Orakel erneut, wobei es sich traurig anhörte. »Vor und hinter dir trägt dich ein Fluss von Blut gen Westen.«
    Plötzlich spürte Tamír ein Kribbeln auf der Brust, wo die alte Narbe verborgen lag. Sie zogen den Kragen ihres Kleids auf und japste ob des Anblicks, der sie darunter erwartete.
    Die Wunde, die sie sich an jenem Tag in Atyion zugefügt hatte, als sie Lhels Naht öffnete und den Knochensplitter herausschnitt, war während der Verwandlung verheilt, sodass nur eine schmale, blasse Linie zurückgeblieben war. Aber nun hatte sie sich wieder geöffnet, so tief, dass Tamír Knochen sehen konnte. Blut rann zwischen ihren Brüsten hinab. Es quoll über ihre Hände und ergoss sich über die Vorderseite des Kleids, ehe es auf den Boden vor ihren Knien spritzte. Seltsamerweise empfand sie keinen Schmerz, sondern fühlte sich eigenartig losgelöst, während sich das Blut rings um sie zu einer runden Pfütze sammelte.
    Als diese die Größe eines Schilds erreichte, kräuselte sich die dunkle

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