Tamir Triad 03 - Die prophezeite Königin
Bruder zu berühren oder aufzuhalten, was ihr noch nie möglich gewesen war. Diesmal jedoch stieß sie auf kaltes Fleisch und harte, sehnige Handgelenke. Sie packte sie, als ein entsetzlicher Gestank über sie hinwegrollte und sie würgen ließ.
»Gib mir Frieden!«, stöhnte eine belegte, keuchende Stimme dicht an ihrem Gesicht. Hinter ihr befand sich nicht mehr Bruders Geist, sondern sein Leichnam. »Hilf mir, ewige Ruhe zu finden, Schwester.«
Er ließ sie los; sie fiel nach vorn auf die Hände und drehte sich zu dem Grauen hinter ihr herum.
Stattdessen jedoch sah sie sich wieder dem Orakel gegenüber, der Frau, mit der sie gesprochen hatte. Sie saß noch so da, wie Tamír sie verlassen hatte, die Hände auf den Knien, die Augen geweitet und wieder leer.
Tamír hob ihre Hände und stellte fest, dass sie trocken und sauber waren. Ihr Kleid war noch verschnürt. Von Blut gab es nirgendwo Anzeichen.
»Du hast mir gar nichts gesagt«, stieß sie hervor.
Das Orakel starrte einfältig an ihr vorbei, als wäre sie gar nicht zugegen.
Wut, wie Tamír sie nie zuvor erfahren hatte, überkam sie. Jäh packte sie das Orakel an den Schultern und schüttelte es in dem Versuch, in jenen ausdruckslosen Augen wieder den Gott zu finden. Es war, als schüttle sie eine leblose Gestalt.
Sie schüttelte tatsächlich eine Puppe, so groß wie eine Frau, aber aus mit Baumwolle ausgestopftem Musselin gefertigt, mit einem grob bemalten Gesicht und unebenmäßigen Gliedern. Sie wog nichts und wackelte schlaff in ihren Händen.
Überrascht ließ Tamír sie fallen, dann starrte sie voll frischem Grauen darauf hinab. Die Puppe war genau wie ihre alte, jene, in die ihre Mutter Bruders Knochen eingenäht hatte. Sogar ein gewundener Haarstrang prangte um den schlaffen Hals. Vom Orakel fehlte jede Spur. Tamír befand sich allein in der dunklen Kammer, und das Licht der Kugel schwand allmählich.
»Was versuchst du mir zu zeigen?«, rief sie und ballte verzweifelt die Hände zu Fäusten. »Ich verstehe es nicht! Was hat all das mit Skala zu tun?«
»Du bist Skala«, flüsterte die Stimme des Gottes. »Das ist die wichtigste Wahrheit deines Lebens, Zwilling des Todes. Du bist Skala, und Skala ist du, genau wie du dein Bruder bist, und er ist du.«
Das Licht war beinah völlig entschwunden, als sie spürte, wie sich etwas um ihre Brust schloss. Panisch schaute sie hinab und fragte sich, ob die entsetzliche Puppe zum Leben erwacht war oder ob es sich wieder um Bruders schauerlichen Leichnam handelte. Stattdessen sah sie, dass es das Seil war, das sich irgendwie um ihren Körper geschlungen hatte. Jemand zog daran, und sie hatte gerade noch genug Zeit, sich daran festzuhalten, ehe sie vom Boden gehoben wurde und sich drehend durch die völlige Finsternis aufstieg. Verängstigt blickte sie nach oben, erspähte den Kreis der Sterne und heftete die Augen darauf, während er näher rückte. Bald konnte sie die dunklen Umrisse von Köpfen erkennen, dann griffen Hände herab, um ihr über den Rand des Lochs nach oben zu helfen. Es war Ki, dessen kräftige Arme sie stützten, als die Knie unter ihr nachgaben.
»Bist du verletzt?«, fragte er und führte sie zu einem Sitzplatz am Rand der Steineinfriedung. »Wir haben gewartet und gewartet, aber du hast kein Zeichen gegeben.«
»Bruder«, stieß sie hervor und umklammerte den Kragen ihres Kleids.
»Was? Wo?«, rief Ki erschrocken, ohne sie loszulassen.
Dankbar lehnte sich Tamír in seine Umarmung. »Nein, es war nur … nur eine Vision.« Dennoch konnte sie nicht aufhören zu zittern.
»Der Gott hat zu Euch gesprochen«, sagte Ralinus.
Tamír stieß ein raues Lachen aus. »Sofern man es so nennen kann. Es waren nur Rätsel und Albträume.«
Plötzlich vernahm sie ein kratzendes Geräusch hinter sich. Als sie sich umdrehte, erblickte sie voll Grauen Bruder, der sie vom Zugang zur Höhle aus anstarrte. Sein Gesicht glich einer Maske blanken Hasses. Seine blasse Haut schrumpelte langsam auf dem Schädel, und Hände wie Klauen gerieten in Sicht und schoben sich über den Boden, als er sich aus dem Loch zog.
Du bist er, und er ist du, flüsterte das Orakel aus der Tiefe.
Die Worte folgten Tamír in Dunkelheit, als sie das Bewusstsein verlor.
Kapitel 33
Tamír war kalt wie ein Leichnam, als sie aus der Kammer des Orakels gehoben wurde. Ki zog sie von den anderen weg, setzte sich und bettete ihren Kopf an seine Brust.
»Meister, hat das Orakel ihr wehgetan?«, flüsterte Wythnir.
»Pst! Sie
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