Tamir Triad 03 - Die prophezeite Königin
Oberfläche, und Schemen begannen, sich darin zu formen. Der Blutverlust musste ihr zu schaffen machen, denn ihr wurde schwindlig, und die Bilder im Blut verschwammen zu einem berauschenden Gewirr von Farben.
»Ich … ich werde …« Sie stand kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren.
Die Berührung einer kalten Hand riss sie aus dem Taumel. Als sie die Augen aufschlug, fand sie sich mit Bruder auf einer windgepeitschten Klippe über dem Meer wieder. Es war der Ort, den sie in ihren Träumen schon so oft besucht hatte, doch dabei war stets Ki an ihrer Seite und der Himmel blau gewesen. Dieser Himmel versprach Regen, und das Meer hatte die Farbe von Blei.
Dann hörte sie das Klirren von Waffen, genau wie im Tempel in Atyion. In der Ferne sah sie zwei kämpfende Armeen, doch sie hatte keine Möglichkeit, sie zu erreichen. Zwischen ihr und dem Schlachtfeld erstreckte sich eine felsige Schlucht. Weit hinter ihnen konnte sie etwas ausmachen, das an die Türme einer großen Stadt erinnerte.
Korins Banner erhob sich aus den Schatten zu ihren Füßen und schwebte in der Luft, als würde es von unsichtbaren Händen gehalten.
Du musst für das kämpfen, was rechtmäßig dir gehört, Tamír, Königin von Skala, flüsterte eine tiefe Stimme in ihr Ohr. Durch Blut und Prüfungen musst du den Thron halten. Das Schwert wirst du aus der Hand des Thronräubers winden.
Noch mehr Blut!, dachte sie verzweifelnd. Warum muss es so sein? Es muss einen anderen – einen friedlichen – Weg geben! Ich will nicht das Blut eines Angehörigen vergießen!
Du wurdest aus vergossenem Blut geboren.
»Wovon redest du?«, rief sie laut. Der Wind erfasste das Banner und blies es ihr ins Gesicht, raubte ihr die Sicht. Es war nur ein besticktes Stück Seide, aber es schlang sich wie ein lebendiges Wesen um ihre Kehle und schnürte ihr den Atem ab.
»Bruder, hilf mir!«, stieß sie keuchend hervor und krallte die Finger in den rutschigen, vom Wind gebeutelten Stoff, fand jedoch keinen Halt.
Ein Lachen, das durch Mark und Bein ging, ertönte zur Antwort. Räche mich, Schwester. Räche mich, bevor du weitere Gefälligkeiten von dem verlangst, dem Unrecht getan wurde!
»Illior! Lichtträger, ich rufe dich an!«, schrie Tamír und wehrte sich verzweifelt. »Wie kann ich ihm helfen? Ich flehe dich an, gib mir ein Zeichen.«
Das Seidenbanner löste sich auf wie Nebel bei Sonnenaufgang. Sie blieb in Finsternis zurück.
Nein, nicht Finsternis, denn in der Ferne erblickte sie einen kalten, weißen Schimmer und begriff, dass sie sich wieder in der Höhle des Orakels befand. Irgendwie hatte sie sich, gefangen in der Vision, von dem Licht entfernt. Ihre Hände fühlten sich klebrig an. Sie hob sie vors Gesicht, kniff ob der Düsternis die Augen zusammen und erkannte, dass sie bis zu den Ellbogen blutig waren.
»Nein!«, flüsterte sie und wischte sie sich hastig an ihren Röcken ab.
Langsam, auf unsteten Beinen, bahnte sie sich den Weg zurück zum Platz des Orakels, doch als sie sich näherte, erblickte sie dort jemand anderen, eine mit einer Robe bekleidete Gestalt mit einem vertrauten, langen und grauen Zopf, die mit geneigtem Haupt vor einem wesentlich jüngeren Orakel kniete. Tamír erkannte Iya, noch bevor die Zauberin den Kopf hob. Wann war sie heruntergekommen, und weshalb? Der Priester hatte gesagt, man dürfe die Höhle nur einzeln betreten.
Iya hielt etwas in den Armen. Als sich Tamír ihr näherte, sah sie, dass es sich um einen Säugling handelte. Das stumme Kind wirkte erschlafft, die Augen starrten blicklos ins Leere.
»Bruder?«, flüsterte Tamír.
»Zwei Kinder, eine Königin«, hauchte das kindliche Orakel in einer für den zierlichen Körper zu greisen und tiefen Stimme. »In dieser Generation wird das Kind geboren, das die Grundfesten all dessen verkörpert, was kommen wird. Sie ist dein Vermächtnis. Zwei Kinder, eine Königin, gezeichnet mit dem Blut des Übergangs.«
Das Mädchen wandte sich Tamír zu, die Augen von einem grellweißen Licht erfüllt, das sich in Tamírs Seele zu bohren schien. »Frag Arkoniel. Nur Arkoniel kann es dir sagen.«
Von Grauen erfüllt, ohne zu wissen, warum, sank sie auf die Knie und stieß leise hervor: »Was soll ich ihn fragen? Wegen meiner Mutter? Wegen Bruder?«
Kalte Hände schlossen sich von hinten um ihren Hals und würgten sie wie zuvor das Banner. »Frag Arkoniel«, flüsterte Bruder ihr ins Ohr. »Frag ihn, was geschehen ist.«
Tamír riss die Hand an die Kehle; sie erwartete nicht,
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