Tamuli 2 - Das leuchtende Volk
es keine Moral gibt, kein Ehrgefühl, keinen Anstand. Aber Scarpa übertrat nie die Gesetze. Er war, was man einen begabten Amateur nennen könnte. Nie hat er eine Lehre oder eine sonstige Ausbildung hinter sich gebracht, hat sich aber in allem versucht.« Er verzog das Gesicht. »Ich verabscheue Amateure! Wie dem auch sei – Scarpa betätigte sich als Zuhälter der eigenen Mutter, wie jeder brave Junge es tun sollte, und auch für seine zahlreichen Halbschwestern, die geborene Huren waren, wenn man dem Klatsch Glauben schenken darf. Er war ein leidlicher Taschendieb und ein ziemlich erfolgreicher Betrüger. Im Unterschied zu den vielen anderen – flüchtigen – Liebhabern seiner Mutter blieb Scarpas styrischer Vater eine Zeitlang bei ihr. Selbst, nachdem er sie verlassen hatte, kümmerte er sich um seinen Sohn und besuchte ihn hin und wieder. So erhielt Scarpa zumindest ein wenig styrische Erziehung und Ausbildung. Schließlich beging er jedoch den Fehler, der bei Amateuren beinahe unvermeidlich ist. Er wollte sich aus dem Beutel eines Schenkengasts bedienen. Doch der Mann war nicht so betrunken, wie es den Anschein hatte. Er packte Scarpa, dem daraufhin sein arjunisches Erbteil durchging. Er zog ein kleines, scharfes Messer und tötete den Gast in der Schenke. Irgend so ein Wichtigtuer verständigte die Polizei, woraufhin Scarpa ziemlich abrupt sein Zuhause verließ.«
»Sehr vernünftig!« murmelte Talen. »Ist er anschließend bei einem berufsmäßigen Dieb und Betrüger in die Lehre gegangen?«
»Nein. Er hat sich offenbar alles selbst beigebracht.«
»Kluger Junge.«
Caalador nickte beipflichtend. »Hätte er die richtigen Lehrer gehabt, wäre vielleicht ein Meisterdieb aus ihm geworden. Nachdem er von zu Hause weggelaufen war, trieb er sich zwei Jahre lang rastlos herum. Als er den Gast in der Schänke ermordet hatte, war er etwa zwölf gewesen; mit vierzehn schloß er sich einem Wanderzirkus an. Er gab sich als Magier aus und machte die übliche Art von Bühnenzauber. Allerdings bediente er sich hin und wieder einiger styrischer Zauber und wirkte echte Magie. Er ließ sich einen Bart wachsen – was unter den tamulischen Rassen äußerst ungewöhnlich ist, da Tamuler kaum Gesichtshaar haben. Wenn ich's recht bedenke, Styriker eigentlich auch nicht. Scarpa ist ein Halbblut, und die Mischung aus Südtamuler und Styriker erwies sich als ziemlich merkwürdig. Weder sein Aussehen noch seine Wesenszüge sind für eine dieser Rassen typisch.« Caalador langte in sein Wams und brachte ein gefaltetes Papier zum Vorschein. »Bildet euch selbst eine Meinung.«
Die Zeichnung war ziemlich unbeholfen, eher eine Karikatur als ein Porträt. Es war die Abbildung eines Mannes mit nicht gerade einnehmendem, jedoch ausdrucksstarkem Gesicht. Die Augen unter den buschigen Brauen lagen tief in den Höhlen. Die hohen Wangenknochen hoben sich wie Felsvorsprünge ab, und die Nase erinnerte an einen Geierschnabel. Der Mund wirkte weich und sinnlich. Der Bart schien sehr dicht und schwarz zu sein, untadelig gestutzt und gepflegt.
»Er widmet diesem Bart offenbar viel Zeit«, bemerkte Kalten. »Es sieht aus, als würde er jedes widerspenstige Haar einzeln abschneiden.« Kalten runzelte nachdenklich die Stirn. »Irgendwie kommt er mir bekannt vor – vielleicht ist es der Zug um die Augen.«
»Es wundert mich, daß ihr überhaupt erkennen könnt, daß es das Bild eines Menschen sein soll«, brummte Talen abfällig. »Die Technik ist grauenhaft!«
»Das Mädchen, das dieses Bild gemalt hat, hatte keinerlei Ausbildung«, verteidigte Caalador die Zeichnerin. »Aber in ihrem eigentlichen Gewerbe ist sie sehr begabt!«
»Und was für ein Gewerbe ist das, Meister Caalador?« fragte Ehlana.
»Sie ist eine Hure, Majestät.« Er zuckte die Schultern. »Sie zeichnet nur nebenbei. Sie hebt gern Bilder ihrer Kunden auf, die sie während ihrer – Geschäftsbeziehung betrachtet. Auf einigen Porträts sind sehr eigenartige Gesichter zu erkennen.«
»Dürfte ich das Bild sehen?« bat Sephrenia plötzlich.
»Selbstverständlich, erhabene Sephrenia.« Ein wenig überrascht, reichte Caalador ihr die Zeichnung. Dann setzte er sich wieder. »Seid Ihr Djukta schon mal begegnet, Sperber?« fragte er.
»Ein einziges Mal.«
»Nun, der hat einen Bart! Djukta sieht aus wie ein wandelnder Strauch! Sogar aus seinen Lidern wachsen Haare. – Wie dem auch sei, Scarpa reiste einige Zeit mit dem Wanderzirkus. Dann, vor ungefähr fünf Jahren, verschwand
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