Tamuli 2 - Das leuchtende Volk
Ehlana abfällig.
»Möge meine Zunge sich grün färben, wenn es nicht so ist, Majestät.« Caalador machte eine Pause. »Gräßlich, nicht wahr?«
»Ich verstehe nicht«, gestand Sarabian.
»Es ist ein Gemeinplatz, Majestät«, erklärte Stragen, »aus einer Literaturgattung, die in Eosien zur Zeit sehr beliebt ist.«
»Wollt Ihr diesem Schwulst wirklich die Ehre machen, ihn Literatur zu nennen, Stragen?« murmelte Baroneß Melidere.
»Sie befriedigt die Bedürfnisse der geistig Minderbemittelten, Baroneß.« Er zuckte die Schultern. »Wie dem auch sei, kaiserliche Majestät, diese Literaturgattung besteht hauptsächlich aus Geistergeschichten. Es gibt fast immer eine Burg oder ein Schloß, wo es spukt, mit Geheimgängen und geheimen Räumen, und die Eingänge sind normalerweise hinter Bücherschränken versteckt. Das ist in fast jeder Gruselmär so. Man empfindet es beinahe als alltäglich – so alltäglich, daß ich nie auf die Idee gekommen wäre, irgend jemand könnte tatsächlich solche Methoden anwenden.« Er lachte. »Ich frage mich, ob Teovin es sich selbst ausgedacht hat oder die Idee einer dieser Geistergeschichten entnahm. Wenn ja, würde das seinen gräßlichen Literaturgeschmack verraten.«
»Sind in Eosien Bücher denn problemlos erhältlich?« fragte Oscagne interessiert. »Hier sind sie schrecklich teuer.«
»Es ist die Folge einer gezielten Aktion unserer Heiligen Mutter Kirche im vergangenen Jahrhundert, das Lesen und Schreiben allgemein zu fördern«, erklärte Ehlana. »Die Kirche wollte, daß ihre Kinder ihre Botschaft lesen können, also verbrachten die Priester sämtlicher Pfarreien viel Zeit damit, ihre Schäfchen das Lesen zu lehren.«
»Man braucht allerdings nicht sehr lange, die Botschaft der Kirche zu lesen«, fuhr nun Stragen wieder fort. »Mit dem Ergebnis, daß es anschließend Unmengen von Leuten gibt, die eine Fähigkeit besitzen, die sie gar nicht einsetzen können. Allerdings war es die Erfindung des Papiers, die den sprunghaften literarischen Anstieg auslöste. Die Kosten für die Anfertigung von Abschriften sind nicht besonders hoch. Aber die Preise für Pergament waren kaum erschwinglich. Als Papier auf den Markt kam, wurden Bücher viel billiger. In fast jeder größeren Stadt gibt es Schreibstuben mit ganzen Trupps von Schreibern, die tonnenweise Bücher kritzeln. Es ist ein gewinnbringendes Geschäft. Die Bücher haben keine Illustrationen, keine verzierten Anfangsbuchstaben und dergleichen, und mit der Schrift gibt man sich nicht allzuviel Mühe. Aber sie sind lesbar und vor allem erschwinglich. Aber nicht jeder, der lesen kann, hat einen guten Geschmack. So kommt es, daß eine Menge grauenvoller Geschichten von Leuten verfaßt werden, die so gut wie kein Talent dafür haben. Sie schreiben über Abenteuer, Geister, Helden, Liebe und – na ja, so anstößige Dinge, daß die Leute sie nicht offen in die Bücherregale stellen. Die Kirche möchte natürlich, daß nur Heiligenlegenden und religiöse Verse geschrieben werden, aber kaum jemand liest so etwas Langweiliges. Wie gesagt, zur Zeit sind Geistergeschichten in Mode – vor allem in Thalesien. Es hat etwas mit unserem nationalen Charakter zu tun, glaube ich.« Er blickte Ehlana an. »Die gesuchten Dokumente in Teovins Geheimkammer zu finden, wird eine langwierige Arbeit sein, meine Königin. Es gibt dort Berge von Schriftstücken, und ich kann schlecht jede Nacht ganze Trupps von Helfern über das Dach einsteigen lassen. Mirtai, Caalador und ich werden jedes einzelne Dokument selbst lesen müssen.«
»Vielleicht auch nicht, Durchlaucht Stragen«, wandte Ehlana ein. Sie lächelte den blonden Unterweltkönig an. »Ich hatte völliges Vertrauen in Eure Unehrlichkeit, mein lieber Junge. Deshalb war ich sicher, daß Ihr früher oder später finden würdet, was wir suchten. Dann erinnerte ich mich an eine Sache, von der Sperber mir einmal erzählt hat. Er hatte sich eines Zaubers bedient, um Kragers Gesicht in einem Wasserbecken erscheinen zu lassen, damit Talen sein Bild zeichnen konnte. Ich sprach mit einem der Pandioner, die uns begleiteten – einem Ritter Alvor. Er hat mir eine sehr interessante Geschichte erzählt. Da Sephrenia keine große Lust zeigt, Elenisch zu lesen, haben sie und Sperber eine Möglichkeit gefunden, dieser Unlust mit einem kleinen Trick beizukommen. Sephrenia blickt auf eine Buchseite – nur ganz flüchtig –, und kann sie dann Stunden, sogar Tage später in einem Spiegel oder auf einer
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