Tamuli 3 - Das Verborgene Land
könnte in den nächsten Wochen Mangelware werden.«
»Bergsten!« Die Stimme, die seinen Namen rief, war hell und melodisch.
Der thalesische Patriarch setzte sich rasch auf und griff nach seiner Streitaxt. »Oh, laß das, Bergsten. Ich tue dir nichts.«
»Wer ist da?« fragte er heftig und tastete nach seiner Kerze und nach Stahl und Feuerstein.
»Da.« Aus der Dunkelheit erschien eine kleine Hand, auf deren Teller eine Flammenzunge tänzelte.
Bergsten blinzelte. Sein mitternächtlicher Besuch war ein kleines Mädchen – ein styrisches, wie er vermutete. Es war ein wunderschönes Kind mit langem Haar und großen, nachtdunklen Augen. Bergstens Hände fingen zu zittern an. »Du bist Aphrael, nicht wahr?« brachte er heiser hervor. »Gut beobachtet, Eminenz. Sperber möchte mit dir reden.«
Bergsten wich vor diesem Wesen zurück, das nach der gängigen Kirchendoktrin nicht existierte – nicht existieren konnte!
»Beruhige dich, Eminenz. Du weißt, daß ich mich nicht mit dir unterhalten könnte, wenn ich nicht die Erlaubnis deines Gottes hätte, nicht wahr? Ohne Genehmigung könnte ich nicht einmal in deine Nähe kommen.«
»Na ja … theoretisch«, gab er widerstrebend zu. »Du könntest aber ein Dämon sein, und die brauchen sich an keine Regeln zu halten.«
»Sehe ich wie ein Dämon aus?«
»Aussehen und Wirklichkeit sind zwei Paar Schuhe«, beharrte er.
Sie blickte tief in Bergstens Augen und sagte den wahren Namen des elenischen Gottes – eines der bestgehüteten Geheimnisse der Kirche. »Ein Dämon könnte diesen Namen nicht aussprechen, hab' ich recht, Eminenz?« »Nun – nein, ich glaube nicht.«
»Wir werden gut miteinander auskommen, Bergsten.« Sie lächelte und hauchte ihm einen Kuß auf die Wange. »Ortzel hätte wochenlang über diese Frage diskutiert. Laß deine Axt bitte hier. Stahl jagt mir Schauder über den Rücken.«
»Wohin gehen wir?«
»Zu Sperber. Das sagte ich bereits.«
»Ist es weit?«
»Eigentlich nicht.« Wieder lächelte sie und öffnete die Zeltklappe.
In Pela war es noch immer Nacht, aber hinter der Zeltklappe herrschte heller Tag – doch war es eine ungewöhnliche Art von Tageslicht. Unter einem regenbogenfarbenen Himmel erstreckte sich ein unberührter weißer Strand hinab zu einem saphirblauen Meer, aus dem sich eine kleine grüne Insel mit einem schimmernden Alabastertempel erhob.
Bergsten steckte den Kopf aus dem Zelt und blickte sich verblüfft um. »Was ist das für ein Ort?«
»Ich nehme an, du könntest ihn Himmel nennen, Eminenz«, antwortete die Kindgöttin und blies die auf ihrem Handteller tanzende Flamme aus. »Jedenfalls ist es mein Himmel. Es gibt noch andere, doch dieser ist meiner.« »Wo ist er?«
»Überall und irgendwo. Alle Himmel sind überall gleichzeitig. Genau wie die Höllen, natürlich – aber das ist eine andere Geschichte. Wollen wir gehen?«
21
Cordz von Nelan war vollkommen. Der fromme Edomer hatte es sich wahrhaftig nicht leicht gemacht, zu dieser Einsicht zu gelangen. Erst nach eingehender Gewissensprüfung und einem sorgfältigen neuerlichen Studium der heiligen Schriften seiner Religion war er bei dieser unausbleiblichen Schlußfolgerung angelangt. Er war vollkommen! Er befolgte alle Gebote Gottes, fügte niemandem ein Leid zu und tat nichts Verbotenes. Wenn das keine Vollkommenheit war, was dann?
Es war beruhigend zu wissen, so ohne Fehl und Tadel zu sein, doch Cordz beabsichtigte nicht, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen. Nun, da er in den Augen Gottes den höchsten Grad der Vollkommenheit erreicht hatte, war es an der Zeit, seine Aufmerksamkeit den Fehlern seiner Mitmenschen zuzuwenden. Sünder vergehen sich jedoch selten in aller Öffentlichkeit gegen die Gebote, deshalb sah Cordz sich gezwungen, zu allerlei Tricks Zuflucht zu nehmen. Er spähte des Nachts heimlich durch Fenster; er belauschte private Gespräche; und wenn seine sündigen Nachbarn ihre Untaten geschickt vor ihm verbargen, stellte er sich vor, welche Sünden sie wohl begehen mochten – und was er da in seiner Phantasie sah, erschreckte ihn über alle Maßen. Der Sabbat war ein ganz besonderer Tag für Cordz, aber nicht wegen der Predigten. Wozu brauchte ein vollkommener Mann Predigten? Nein, der Sabbat war deshalb ein ganz besonderer Tag für Cordz, weil er sich dann erheben und die Sünden seiner Nachbarn anprangern konnte – sowohl die Sünden, die sie wirklich begangen hatten als auch jene, die sie begehen könnten. Wahrscheinlich verärgerte er den
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