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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Kopf und Schultern, die Augen auf Oliver fixiert und zog einen schwarzen Morgenrock über ihre Blöße. Durch die Düsterkeit im äußersten Ende des Raums waren weitere Männer, alte und junge, an ihren Betten stehend, zu erkennen. Sie rauchten Zigaretten oder Zigarren oder tranken Champagner oder Whisky. Alle schauten Oliver an. Einige grinsten wissend.
    Miss Parkhursts Züge runzelten sich qualvoll wie ein alter Apfel, sie warf den Kopf zurück und schrie. Der alte Mann auf dem Bett packte schwerfällig einen Umhang und seine Kleidung.
    Ihr Schrei hallte von der Decke und den Wänden wider und trieb Oliver durch die Tür, die Halle und die Treppenflucht hinab zurück in sein Zimmer. Der Luftzug seiner überstürzten Flucht fuhr ihm durch die tränendurchweichte Kleidung kalt bis in die Knochen. Irgendwie fand er den Weg durch die plötzliche Dunkelheit und Leere und schloß sich in seinem Zimmer ein, wo das Feuer immer noch warm und fröhlich gelb brannte. Hemmungslos zitternd zog Oliver die nassen Sachen aus und rief mit wimmernder Stimme nach seinen eigenen. Aber die unsichtbaren Diener brachten sie ihm nicht.
    Er fiel aufs Bett, zog die Decke über sich und schloß die Augen. Er betete, daß sie ihm nicht nachkam, daß sie nicht in sein Zimmer kam, ihren Morgenmantel beiseite warf und ihren feurigen Körper offenbarte; er betete, daß ihr Geruch ihn nicht den Rest seines Lebens verfolgen würde.
    Seine Zimmertür öffnete sich nicht. Draußen war alles still. Nach einiger Zeit, als die Dämmerung die Dächer, dann die Wände und schließlich die Straßen erreichte, schlief Oliver.
     
    »Sie kamen letzte Nacht aus Ihrem Zimmer«, sagte Miss Parkhurst beim späten Frühstück. Oliver hörte für einen Moment mit dem Kauen auf, blickte sie mit blutunterlaufenen Augen an und zuckte die Achseln.
    »Haben Sie gesehen, was Sie erwartet haben?«
    Oliver antwortete nicht. Miss Parkhurst seufzte wie ein junges Mädchen.
    »Es ist mein Leben. So habe ich lange Zeit gelebt.«
    »Das geht mich nichts an«, sagte Oliver, teilte ein Brötchen in zwei Hälften und bestrich sie mit Butter.
    »Widere ich sie an?«
    Wieder keine Antwort. Miss Parkhurst erhob sich inmitten seines Schweigens und ging zur Tür des Eßzimmers. Sie blickte ihn über ihre Schulter hinweg mit feuchten Augen an. »Sie haben jetzt keine Furcht mehr vor mir«, sagte sie. »Sie denken, Sie wüßten, was ich bin.«
    Oliver erkannte, daß sein Schweigen und seine mißachtende Haltung sie verletzte, und genoß für einen Moment diese Macht. Als sie im Eingang stehenblieb, blickte er mit einem absichtlich harten Ausdruck – zugleich sarkastisch und verärgert, von Reggie kopiert – auf und sah Tränen über ihre Wangen rinnen. Sie schien nun jünger denn je, nicht gefährlich, lediglich sehr bekümmert. Sein Ausdruck schwand. Sie wandte sich ab und schloß die Tür.
    Oliver knallte das halbe Brötchen auf seinen Teller mit Eiern und stieß seinen Stuhl vom Tisch zurück. »Ich bin nicht einmal erwachsen!« schrie er gegen die Tür. »Ich bin noch kein Mann! Was wollen Sie von mir?« Er stand auf und trat den Stuhl weg, dann steckte er die Hände in die Taschen und wanderte in dem kleinen Raum umher. Er fühlte sich eingeschlossen, und sie hatte sogar gesagt, er könne jederzeit gehen, wenn er es wünsche.
    Wohin gehen? Nach Hause?
    Er starrte auf das Goldbesteck und die mit ausgezeichneten Speisen gefüllten Teller. Zuhause gab es das nicht. Zuhause war ein Ort, dachte er zuweilen, gegen den er kämpfen mußte, um von ihm loszukommen. Er konnte Mama nicht für immer vor dem Rest der Familie schützen, er konnte nicht den Rest seines Lebens der Brötchenverdiener für fünf Extramäuler sein…
    Und wenn er hierbliebe, wissend, was Miss Parkhurst jede Nacht tat? Könnte er jeden Morgen mit dem Wissen frühstücken, wie die Speisen verdient worden waren, genau wie alle seine Kleider, Bücher und das Piano? Er würde dann wahrhaftig ein Gigolo sein.
    Sunside. Er war hier, vielleicht könnte er hier leben, Arbeit finden, von Sleepside weggehen.
    Allein der Gedanke daran versetzte ihm einen Stich. Er setzte sich und vergrub sein Gesicht in den Händen, wischte sich mit den Fingerspitzen über die Augen, zog an seinen Lidern, um eine Fratze zu schneiden. Er beobachtete sich selbst in der goldenen Karaffe – die große Nase, die monströs getrübten Augen. Er mußte mit Mama reden. Selbst ein Gespräch mit Yolanda mochte helfen.
    Aber Miss Parkhurst war nirgends

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