Tangenten
nicht geben wollte.
»Es wird bald dunkel«, sagte sie, als die Teller sich von selbst abräumten. Er gewöhnte sich langsam an diesen geisterhaften Service. »Ich muß bald gehen, und Sie müssen in ihr Zimmer. Nehmen Sie es mit und behalten Sie es dort.« Sie hob eine Tablettabdeckung und enthüllte eine weiße Seidentasche. Sie knüpfte die Tasche auf, holte das goldene Kästchen hervor und präsentierte es ihm schüchtern. »Es wurde mir vor langer Zeit gegeben. Ich brauche es jetzt nicht mehr. Aber wenn Sie diesen Ort betreiben wollen, müssen Sie es haben. Sie dürfen es nicht verlieren oder es jemand anderem geben.«
Zögernd näherte sich Olivers Hand dem Kästchen. Es schien sehr erstrebenswert zu sein, als wenn ihm etwas von Miss Parkhurst innewohnte: warm, machtvoll, ein wenig beängstigend. Es paßte perfekt in seine Hand und war seiner Haut vertraut, als hätte er es schon immer besessen.
Er preßte die Lippen zusammen und gab es ihr zurück. »Es tut mir leid«, sagte er. »Es ist nicht für mich.«
»Sie erinnern sich an das, was ich Ihnen sagte«, erwiderte sie. »Wenn Sie es nicht nehmen, dann jemand anders, und es würde niemandem damit gedient sein. Ich möchte, daß es gut verwendet wird, nun, da ich damit fertig bin.«
»Wer hat es Ihnen gegeben?« fragte Oliver.
»Ein Zuhälter, vor langer Zeit. Als ich noch ein Mädchen war.«
Olivers Augen verrieten kein Urteil und kein Abscheu. Sie atmete tief durch.
»Es hat Sie dazu gebracht…?« fragte Oliver.
»Nein. Ich war jung, aber bereits eine Hure. Ich hatte einen netten alten Zuhälter, wenigstens schien er alt zu sein, ich war nicht viel älter als ein Kind. Er starb, er wurde umgebracht, also kam dieser neue Zuhälter, und er war mächtig. Er besaß die Magie. Aber er konnte mich nicht bändigen. Also sagte er…«
Miss Parkhurst hob die Hände ans Gesicht. »Er schlitzte mich auf. Ich war schon fast tot. Er sagte: ›Du machst mir Schande, Hure. Du tust mir das an, bringst mich soweit daß ich die Kontrolle verlier. Du bist die einzige, die so etwas je geschafft hat. Deshalb verfluche ich dich. Du sollst die größte Hure sein, die es je gab.‹ Daraufhin gab er mir das Kästchen und richtete mein Gesicht und meinen Körper wieder her, so daß ich hübsch aussah. Dann verließ er mich, und ich hatte die Leitung inne. Seitdem bin ich hier, aber alle anderen Mädchen sind gegangen – es ist schon so lange her, einige sind gestorben, sind gegangen, oder ich habe ihnen gesagt, sie sollten gehen. Ich wollte dieses Haus schließen, aber ich konnte nicht alles auf einmal schließen.«
Oliver nickte bedächtig. Seine Augen waren weit geöffnet.
»Er gab mir auch das meiste von seiner Magie. Ich hatte keine Wahl. Etwas, das er mir nicht gab, war ein Ausweg. Außer…«
Diesmal zeigte ihr Gesicht einen flehentlichen Ausdruck.
Oliver hob eine Augenbraue.
»Was ich brauche, muß freiwillig gegeben werden. Nun nehmen Sie dies.« Sie stand auf und drückte ihm das Kästchen in die Hand. »Gebrauchen Sie es, um Ihre Wege im Haus zu finden. Aber verlassen Sie nach Einbruch der Dunkelheit nicht ihr Zimmer.«
Sie verließ das Eßzimmer und ließ einen Duft von Moschus und Blumen und etwas Bittersüßem zurück. Oliver steckte das Kästchen in die Tasche und kehrte in sein Zimmer zurück. Er fand seinen Weg, ohne zu zögern, ohne nachzudenken. Er schloß die Tür und ging zum Bücherschrank, bekümmert, aufgebracht und frohlockend zugleich.
Sie hatte ihm ihr Geheimnis erzählt. Wenn er es wollte, konnte er nun verschwinden. Sie hatte ihm die Macht gegeben, dieses Haus zu verlassen.
Von seinem Glas Sherry nippend, das er auf dem Nachttisch neben dem Bett vorgefunden hatte, las er in einem Buch über das Leben von Komponisten und beschloß, bis zum nächsten Tag zu warten.
Nach einigen Stunden konnte ihn nichts mehr von Miss Parkhursts Verbot ablenken – nicht das Piano, die Bücher oder die Happen, die schon beinahe geliefert wurden, bevor er überhaupt an sie gedacht hatte, und auf einem Tablett erschienen, wenn er nicht hinsah. Oliver saß mit gefalteten Händen im Plüschsessel und blinzelte in die dunklen Ecken des Zimmers. Er dachte, er hätte Miss Parkhurst festgenagelt. Sie war eine alte Frau, ihres Lebens überdrüssig, eine alte Frau, die sich gut gehalten hatte, das war sicher, und sehr stark war… Aber sie war freundlich zu ihm, umhegte ihn wie einen Gigolo. Dennoch konnte er nicht anders, als sie zu bewundern, und er konnte sich
Weitere Kostenlose Bücher