Tangenten
starben alle«, sagte sie. »Alle außer mir. Ich erhielt sie alle, jeden einzelnen, jeden Mann, kein Vergessen, kein Gehenlassen. Wir hatten stets dieses Band zwischen uns. Das ist der Fluch.«
Oliver zog sich vom Sarg zurück, hielt den Atem an, sein Herz klopfte vor Schreck. Was war schlimmer, dies oder die alten Männer in der Nacht? In die Dunkelheit am anderen Ende der Reihe von Flaschensärgen gehüllt, schien Miss Parkhurst für einen Augenblick in der gleichen feurigen Macht zu glühen, die er gespürt hatte, als er sie zum ersten Mal sah.
»Ich vermisse einige von ihnen«, sagte sie. Ihre Stimme so leise, an Kraft gerade soviel abnehmend, als ob sie in seinem Geist wäre. »Wir hatten schöne Zeiten miteinander.«
Oliver versuchte sich vorzustellen, was Miss Parkhurst in ihrem Leben schon durchgemacht hatte, die guten Zeiten und die schlechten. »Haben Sie Kinder?« fragte er, seine Stimme so dünn wie das Summen einer Fliege in einer Flasche. Er sprang zurück, als einer der Särge von seinen zittrigen Worten widerhallte.
Miss Parkhursts Schultern bebten. »Viele«, sagte sie knapp. »Alle tot, bevor sie geboren wurden.«
Zuerst war seine Betroffenheit normal, hervorgerufen durch seine sonntäglichen Kirchgänge. Dann kam der Gedanke an die ungeheure organische Verschwendung über ihn wie eine Lawine. All die Gefühle, das Sehnen und nichts kam dabei heraus, nur diese Eisenflaschen und die lebhaften Geister.
»Aber was ist schon das Kind einer Hure?« fragte Miss Parkhurst. »Besonders, wenn die Mutter eine Hure bleibt.«
»War Ihre Mutter…?« Es schien nicht recht zu sein, dieses Wort auf jemandes Mutter anzuwenden.
»Sie war… und ihre Mutter auch. Ich habe keinen Vater oder viele Väter.«
Oliver erinnerte sich an den alten Mann, der ihn im Traum gezüchtigt hatte. Noch bevor er seine Worte, die ihr Trost spenden und ihr ein Zeichen dafür sein sollten, daß er ihrer Situation nicht gleichgültig gegenüberstand, so recht gewählt hatte, sagte er: »Eine Hure zu sein, kann nicht immer nur schlecht sein.«
»Vielleicht nicht«, sagte sie. Miss Parkhurst war kaum als Fleck im Schatten auszumachen. Sie mochte durchaus zu Staub zerfallen, wenn er gerade nicht hinschaute.
»Sie sagten, eine Hure zu sein, bedeute, innerlich leer zu sein. Nicht jeder, der innerlich leer ist, ist eine Hure.«
»Oh?« erwiderte sie leichthin. Er war in eine für ihn uncharakteristische Position gedrängt, aber Oliver wollte, egal ob er sich lächerlich machte oder nicht. Seine gemischten Gefühle verrieten ihn.
»Sie haben gelebt«, sagte er. »Sie besitzen Erinnerungen wie niemand anderes. Sie könnten Bücher darüber schreiben. Man könnte Filme über Sie machen.«
Ihr Lächeln war ein schwaches Leuchten im Schatten. »Ich hatte einige interessante Leute zu Besuch«, sagte sie. »Mächtige Männer. Ich hatte etwas, das sie brauchten. Manchmal öffneten sie sich und erzählten, wie schwer sie sich taten, keine kleinen Jungs mehr sein zu dürfen. Zuweilen, wenn wir uns entspannten, weinten sie sich an meiner Schulter aus, als wäre ich ihre Mama. Aber dann gehen sie fort und versuchen, mich zu vergessen. Wenn sie es nicht verdrängen würden, hätten sie wegen dem, was ich über sie weiß, Furcht vor mir. Nun, sie wissen, daß ich schwach werde«, sagte sie. »Von Büchern oder Filmen halte ich nichts. Ich würde nicht sagen, was ich weiß. Und nebenbei bemerkt, sind viele dieser Männer tot. Wenn sie es nicht sind, warten sie nur darauf, daß ich sterbe, so daß sie ruhig schlafen können.«
»Was meinen Sie mit ›schwach werden‹?«
»Ich habe noch zwei, vielleicht drei Tage: Dann sterbe ich als Hure. Meine Zeit ist vorüber. Der Fluch ist fast vollendet.«
Oliver schnappte nach Luft. Als er sie das erste Mal sah, schien sie so kraftvoll wie eine Diesellokomotive, als könne sie ewig leben.
»Und wenn ich übernehme?«
»Bekommen Sie das Haus, das Geld.«
»Wieviel Macht?«
Sie antwortete nicht.
»Sie können mir keine Macht geben, nicht wahr?«
»Nein«, schwach wie eine Brise, die von ihren Augenwimpern verursacht wurde.
»Das Kästchen wäre zu nichts nütze?«
»Nein.«
»Sie haben mich angelogen.«
»Ich lasse Ihnen alles, was übrig ist.«
»Das ist es nicht, warum Sie mich haben kommen lassen. Sie haben Mama genommen…«
»Sie hat mich beraubt.«
»Meine Mama hat noch nie irgendwas gestohlen!« rief Oliver. Die Eisensärge summten.
»Sie nahm etwas, nachdem ich ihr meine
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