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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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nicht helfen, aber er wollte nach Hause, in die Nähe von Mama, Yolanda und den Babys, seine Brüder aus Schwierigkeiten heraushalten – nicht daß sie seine Bemühungen würdigten.
    Je länger er dasaß, desto ärgerlicher und neugieriger wurde er. Er war sicher, daß zu Hause etwas nicht in Ordnung war. Im Zimmer umherzugehen, beruhigte ihn nicht. Er untersuchte im Schein des Feuers immer wieder das Kästchen, die Augenbrauen verkniffen, und fragte sich, welche Macht es ihm verlieh. Sie hatte gesagt, er könne damit überall im Hause herumgehen und seinen Weg finden, genau wie er ohne ihre Hilfe sein Zimmer gefunden hatte.
    Er stöhnte und schüttelte die Fäuste. »Sie kann mich nicht hierbehalten! Sie kann nicht!«
    Um Mitternacht konnte er sich nicht länger beherrschen. Er stand vor der Tür. »Laß mich raus, verdammt noch mal!« schrie er, und die Tür öffnete sich mit einem traurigen Wispern. Er rannte den Korridor hinunter. Zerstreutes Mondlicht lag wie Staub auf dem Boden, Tränen schimmerten auf seinen Wangen.
    Durch die Wohnzimmer, die langen Hallen der leeren Schlafzimmer – nun mit geschlossenen Türen und Andeutungen von Lauten dahinter –, durch die große, einsame Küche mit ihren Reihen polierter Töpfe und mächtigen Kohleherden, durch einen Hof, umgeben von den fünf Stockwerken des Hauses und nur offen zum goldbestirnten Nachthimmel, vorbei an einem Ziegelbrunnen, der von drei großen weißen Porzellanlöwen bewacht wurde, deren Ohren und leere Augen seinem Lauf folgten. Oliver suchte nach Miss Parkhurst, um ihr zu sagen, daß er weggehen mußte.
    Für einen Augenblick schnappte er auf einer Galerie nach Luft. Er sah schwache Lichter unter den Türen und hörte noch mehr vielsagende Laute. Keine Zeit zum Verschnaufen, selbst mit klopfendem Herzen und brennenden Lungen. Wenn er zu lange an einem Ort verweilte, dachte er, würden die Geister real werden und ihn an ihren Lustbarkeiten teilhaben lassen. Dies war Miss Parkhursts Vergangenheit, ihr Alter und ihre Unzucht; es war mehr als er vertragen konnte. Wie konnte jemand ein solches Leben führen, selbst wenn er verflucht war?
    Die Versuchung anzuhalten, zu lauschen, nachzugeben und sich dazuzugesellen, war beinahe stärker, als ihr zu widerstehen. Er verlor den Pfad dessen, was er tat, was sein letztendliches Ziel war, aus den Augen.
    »Wo sind Sie?« rief er und stieß die Doppeltür zu einem Spielzimmer auf. Es war, bis auf weitere aufgeschreckte Geister, weitere von Miss Parkhursts Buchführung der Ewigkeit, verlassen. Fahle Gestalten erhoben sich vom Billardtisch, durchscheinende Brüste glühten in einem inneren Licht, fahle Liebhaber rollten sich langsam zur Seite, fette Bäuche ragten hervor – Geisteraugen schwarz und aufgeschreckt. »Miss Parkhurst!«
    Oliver fegte durch Hunderte von Mädchen mit nicht mehr Substanz als Schleiern aus Regentropfen. Seine neue Kleidung wurde naß von ihren Tränen. Sie hatte diese Ewigkeit an jämmerlicher Lust geleitet. Sie hatte diese Ausschweifungen orchestriert, für das gesorgt, was er in sich spürte: die Stimmungen und tiefsten, unausgesprochenen Wünsche.
    Dünnes altes Gelächter folgte ihm.
    Er rutschte auf einer sauer riechenden Champagnerpfütze aus und landete abrupt vor einer hölzernen Tür zu einem Raum, den er noch nicht kannte. Der goldene Öffner sagte ihm nicht, was er jenseits dieser Tür finden würde.
    »Öffnen!« rief er, wurde aber nicht erhört. Die Tür war nicht verschlossen, aber sie widerstand seinem Eintritt, als würde sie Tonnen wiegen. Er stieß mit beiden Händen, dann mit der Schulter gegen die Täfelung und stützte seine Segeltuchschuhe gegen den dicken Wollflor eines champagnergetränkten Läufers. Die Tür schwang mit einem eisernen Grollen nach innen auf und Oliver stolperte hinein, bewahrte sich in letzter Minute davor, gerade aufs Gesicht zu fallen. Mit gespreizten Beinen und auf beide Hände gestützt, blickte er vom Holzboden auf und sah, wo er war.
    Der Raum war schmal, schien sich aber über Kilometer hinzuziehen. Auf einer Seite befanden sich schlichte Betten in einer endlosen Reihe, auf der anderen Seite befand sich eine endlose Reihe freistehender großer Spiegel. Ein alter Mann, der älteste, den er je gesehen hatte, erhob sich nackt und weiß wie Talkum vom Bett und murmelte vor sich hin. Neben ihm lag, rot und warm wie ein Haufen glühender Kohlen, Miss Parkhurst mit gespreizten Beinen. Der Dunst von Moschus und Schweiß hing über ihr. Sie hob

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