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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Gastfreundschaft angeboten hatte.«
    »Was könnte sie von Ihnen nehmen? Sie ist kein Dieb.«
    »Sie nahm ein Notenblatt.«
    Olivers Züge verzogen sich schmerzvoll. Er kehrte sich ab, die Hände zu Fäusten geballt. Sie hatten nahezu kein Geld für seine Musik. Seit sein Vater gestorben war, hatte er des öfteren seine Musik aufgeben müssen, weil er keine neuen Partituren hatte. »Warum haben Sie mich geholt?« krächzte er.
    »Mir macht es nichts aus, zu sterben. Aber ich möchte nicht als Hure sterben.«
    Oliver wandte sich um, diesmal verärgert wegen seiner Mama und auch sich selbst. Er näherte sich dem substanzlosen Schatten. Miss Parkhurst schimmerte wie ein Vorhang. »Was wollen Sie von mir?«
    »Ich brauche jemanden, der mich liebt. Mich aus keinem besonderen Grund liebt.«
    Für einen Augenblick sah er ein dürres Mädchen in einem roten Hemd mit großen Augen vor sich stehen. »Wie könnte Ihnen das helfen? Kann Sie das zu etwas anderem machen?«
    »Nur Liebe«, sagte sie. »Nur das Vergessen von dem allen hier« – sie deutete auf die Särge – »und allem dort«, sie wies nach oben.
    Olivers Körper entspannte sich; er atmete auf. »Ich kann Sie nicht lieben«, sagte er. »Ich weiß nicht einmal, was Liebe ist.« Stimmte das? Oben hatte sie sich in seinen Verstand gebrannt, und er hatte sie gewollt, obwohl es ihn aufbrachte, wenn er sich daran erinnerte. Was konnte er für sie empfinden? »Lassen Sie uns jetzt zurückgehen. Ich muß nach Mama schauen.«
    Miss Parkhurst erschien aus dem Schatten und ging schweigend an ihm vorbei, nicht einmal ihr Rock raschelte. Sie signalisierte ihm mit dem Finger, ihr zu folgen.
    Sie verließ ihn an der Tür zu seinem Zimmer und sagte: »Ich warte im großen Wohnzimmer.« Oliver sah einen kleinen Fernseher auf dem Nachttisch am Bett und eilte hin, um ihn einzuschalten. Der Bildschirm füllte sich mit Statik und unscharfen Bildern. Er sah Ausschnitte von Gesichtern, Farbflecken und Strukturen, die so schnell vorübergingen, daß er sie nicht identifizieren konnte. Die gesamte Stadt mochte gleichzeitig auf dem Schirm sein, aber er konnte nichts klar erkennen. Er drehte den Kanalknopf und erhielt noch mehr Statik. Dann sah er die Aufschrift über dem Kanal 13 auf der Kanalleiste: Zuhause – in kleinen goldenen Lettern. Er drehte den Knopf auf diese Position und der Schirm wurde scharf.
    Mama lag im Bett, die Beine hochgelegt, das Haar unfrisiert. Sie sah nicht gut aus. Ihre Hand, die ausgestreckt auf dem Bett lag, zitterte. Ihr Atem ging schwer und rauh. Im Hintergrund hörte Oliver Yolanda, die mit den Babys beschäftigt war und schließlich frustriert ihre älteren Brüder anschrie.
    Warum helft ihr mir nicht mit den Babys? verlangte seine Schwester mit ferner blecherner Stimme zu wissen.
    Mama hat es dir gesagt, erwiderte Denver.
    Hat sie nicht. Sie hat es uns allen gesagt. Ihr könntet mal helfen.
    Reggie lachte. Wir müssen Pläne machen.
    Oliver wandte sich vom Fernseher ab. Mama war krank und vielleicht würde sie sterben, egal was seine Brüder, seine Schwester und die Babys taten. Er konnte sich auch denken, warum sie krank war – aus Sorge wegen ihm. Er mußte zu ihr gehen und ihr sagen, daß es ihm gut ging. Ein Anruf wäre nicht genug.
    Er zögerte jedoch erneut, das Haus und Miss Parkhurst zu verlassen. Etwas über ihre schwindende Magie hinaus wirkte hier. Er wollte ihr zuhören und mehr von diesem faszinierenden Horror erfahren. Er wollte sie wieder ansehen, ihre sanfte, alte Schönheit. In gewissen Sinne brauchte sie ihn genauso, wie Mama ihn brauchte. Miss Parkhurst brachte alles in ihm durcheinander, was gesetzmäßig und ordentlich war. Letztendlich mußte er aber bei dem Gedanken an die Rückkehr zu Mama zugeben, daß er das Durcheinander genossen hatte.
    Er ergriff den goldenen Öffner und rannte von seinem Zimmer zum Wohnzimmer. Sie wartete dort auf ihn in einem roten Samtsessel, ihre Hände lagen auf zwei Löwen am Ende der Armlehnen. Die hölzernen Gesichter der Löwen grinsten unter ihrer Berührung. »Ich muß gehen«, sagte er. »Mama ist vor Sorge um mich krank.«
    Sie nickte. »Ich halte Sie nicht auf«, sagte sie.
    Er starrte sie an. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen«, sagte er.
    Sie lächelte hoffnungsvoll, mitleiderregend. »Dann versprechen Sie zurückzukommen.«
    Oliver schwankte. Wie lange würde Mama ihn brauchen? Was, wenn er sein Versprechen gab, zurückkehrte und Miss Parkhurst wäre bereits tot?
    »Ich verspreche

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