Tangenten
wußte, wenn er überzeugt wurde, daß er die Krankheit hatte, würde dies ausreichen, um den Zustand festzulegen, glaubte Frederik. – Oder würde er nicht? – Wir wissen bisher nicht, wieviele von uns überzeugt werden müssen. Würde Marty allein ausreichen? Ist ein Konsens notwendig? Genügt eine Zweidrittelmehrheit?
Das alles schien – scheint – mir grotesk. Die Physik ist mir schon immer suspekt vorgekommen, und nun weiß ich, warum.
Dann machte Frederik einen schrecklichen Vorschlag.
23. Mai 1981
Frederik machte den Vorschlag noch einmal beim heutigen Treffen.
Die anderen zogen den Vorschlag ernsthaft in Betracht. Als ich erkannte, wie ernst sie es meinten, versuchte ich, Einwände zu erheben, drang aber nicht durch. Ich bin restlos davon überzeugt, daß wir nichts tun können, daß, wenn der Kern zerfällt, wir dem Untergang geweiht sind. In dreihundert Tagen werden die ersten Anzeichen zu erkennen sein – Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Schweißhände, stechende Schmerzen hinter den Augen. Erscheinen sie nicht, sind wir aus dem Schneider. Selbst Frederik erkannte die lächerliche Natur seines Vorschlags, aber er fügte hinzu: »Die Symptome unterscheiden sich nicht großartig von denen einer Grippe, wißt ihr. Und wenn nur einer von uns überzeugt wird…«
Andeuten, daß das Schnippen des Zustandes wegen der menschlichen Schwäche mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der Freisetzung des Virus resultieren würde. Resultierte.
Sein Vorschlag – ich schreibe dies mit großen Schwierigkeiten – ist, daß wir alle Selbstmord begehen sollten. Alle sechs. Da wir die einzigen sind, die von dem Experiment wissen, sind wir die einzigen, glaubt er, die den Zustand festlegen können, die die Dinge gewiß werden lassen können.
Parkes, sagt er, ist besonders gefährlich, aber wir sind alle potentielle Hypochonder. Mit dem Druck von beinahe zehn Monaten des Wartens zwischen jetzt und dem potentiellen Auftauchen von Symptomen sind wir alle dem Zusammenbruch nahe.
30. Mai 1981
Ich habe mich geweigert, mit ihnen zu gehen. Jeder hat sich äußerst ruhig verhalten, hielt sich von den anderen fern. Aber ich vermute, daß Parkes und Frederik etwas vorhaben. Oscar ist mürrisch – er ist nahe daran, Selbstmord zu begehen, aber er ist zu feige, um es alleine durchzuführen. Fauch… Ich kann ihn nicht erreichen.
Ah, Christus. Frederik rief an. Er sagte, ich kann mich nicht heraushalten. Sie haben Marty umgebracht und das Laborgebäude zerstört, um alle Spuren des Experiments auszumerzen, damit niemand erfährt, daß es jemals stattgefunden hatte. Die Gruppe kommt nun zu meinem Apartment herüber. Ich habe gerade noch Zeit, um dies in den Universitätsbriefkasten zu werfen. Was kann ich tun? – Rennen?
Sie sind zu nahe.
Dietrich an Kranz
Carl: Ich habe das Tagebuch gelesen, obwohl ich nicht sicher bin, es verstanden zu haben. Was hast du über Bernard herausgefunden?
Kranz an Dietrich
Werner: Oscar Bernard arbeitete zur Zeit des Zwischenfalls tatsächlich an einer RhinoVirusmutation. Mir war es nicht möglich, viel herauszubekommen – eine Menge Leute in grauen Anzügen wandern durch die Korridore da drüben. Aber den Gerüchten nach fehlen alle seine Notizen über gewisse Projekte.
Glaubst du es? Ich meine – glaubst du die Theorie soweit, um mir zuzustimmen, daß die Unterredung über das Tagebuch hier enden sollte? Ich bin erschreckt und fühle mich töricht.
Dietrich an Kranz
Carl: Wir müssen die vollständige Auflistung der Symptome bekommen – außer Kopfschmerzen, Schweißhände, Rückenschmerzen und Schmerzen hinter den Augen.
Ja, ich glaube fest an die Theorie. Und wenn Goa das getan hat, was im Tagebuch steht… du und ich können den Zustand bestimmen.
Jeder, der dies liest, kann den Zustand bestimmen.
Was, in Gottes Namen, werden wir tun?
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Originaltitel: ›SCHRÖDINGER’S PLAGUE‹ • Copyright © 1982 by Greg Bear • Erstmals erschienen in ›ANALOG – SCIENCE FICTION/SCIENCE FACT‹ • Copyright © 1997 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München • Aus dem Amerikanischen übersetzt von Andreas Irle
DIE STRASSE INS NIRGENDWO
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Der lange schwarze Mercedes rumpelte von Dijon aus nach Süden und kam aus dem Nebel hervor. Feuchtigkeit rann in kalten Tropfen über die Windschutzscheibe. Horst von Ranke studierte sorgfältig die Karten, die auf seinem Schoß ausgebreitet waren; seine Brille saß ihm
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