Tangenten
»Du hast recht«, sagte er zu von Ranke, »sie ist die Schwierigkeiten nicht wert.« Er wandte sich um und stapfte durch die Tür. Von Ranke folgte ihm mit einem letzten Blick über die Schulter in die Dunkelheit, den Verfall. Jahrelang hat niemand in dieser Hütte gewohnt, dachte er. Ihr Schatten war grau und undeutlich vor dem alten Steinherd, hinter dem staubbedeckten Tisch auszumachen.
Im Auto seufzte von Ranke. »Du tendierst wirklich zur Arroganz, weißt du das?«
Fischer grinste und schüttelte seinen Kopf. »Du fährst, alter Freund. Ich schaue auf die Karten.« Von Ranke trat das Gaspedal des Mercedes durch, bis das Wimmern hoch und stetig war und die Abgase ein wirbelndes Loch in den zurückliegenden Nebel schnitten. »Kein Wunder, daß wir uns verirrt haben«, sagte Fischer. Er schüttelte die Karte Gesamtdeutschlands verdrießlich. »Die ist fünf Jahre alt – von 1979.«
»Wir werden unseren Weg schon finden«, sagte von Ranke.
Von der Tür der Hütte aus beobachtete die alte Frau sie kopfschüttelnd. »Ich bin keine Jüdin«, sagte sie, »aber ich liebte sie. Oh, ja. Ich liebte alle meine Kinder.« Sie hob die Hand, als der lange schwarze Wagen im Nebel aufheulte.
»Ich werde euch vor Gericht bringen, auf welcher Linie ihr auch leben mögt. Euch und eure Kinder und die Kinder eurer Kinder«, sagte sie. Sie tropfte einen Kringel Rauch von ihrem Ellbogen auf den Dreckboden und wackelte mit dem Finger. Der Rauch tanzte und malte schwarze Figuren in den Dreck. »In die Zeit eurer Väter.« Der Nebel wurde dünner. Sie stieß ihren Arm hinab und vierzig Jahre schmolzen mit dem Nebel dahin.
Von hoch droben drang ein tieferes Brummen über die Straße. Ein Schatten flog mit breiten Schwingen über die Hütte, Hügel blitzten wie Sterne, Invasionsbanner und Geschützfeuer.
»Hungriger Vogel«, sagte die formlose Gestalt. »Zeit zum Füttern.«
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Originaltitel: ›TROUGH ROAD NO WHITHER‹ • Copyright © 1985 by Greg Bear • Erstmals erschienen in ›FAR FRONTIERS‹, hrsg. von Jerry Pournelle & Jim Bean • Copyright © 1997 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München • Aus dem Amerikanischen übersetzt von Andreas Irle
TANGENTEN
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Der nußbraune Junge stand in einem kalifornischen Feld, sein asiatisches Gesicht war durch einen praktischen Hut beschattet. Sein kleiner, stämmiger Körper war mit einem T-Shirt und braunen Shorts bekleidet. Er blickte über das hüfthohe Gras auf das alte, zweigeschossige Ranchhaus und pfiff einige Takte einer Klaviersonate von Haydn.
Aus dem oberen Stock des Hauses drang die hohe, frustrierte Stimme eines Mannes: »Verdammter Mist!« und das Geräusch einer Faust, die auf eine feste Unterlage schlug. Für eine Minute herrschte Stille. Dann, leiser, die Frage einer Frau: »Klappt es nicht?«
»Nein. Ich schwimme darin, aber ich kann es nicht sehen.«
»Die Verschlüsselung?« fragte die Frau zaghaft.
»Der Tesserakt. Wenn er keine Gestalt annimmt, ist er kein Aspik.«
Der Junge kauerte sich ins Gras und lauschte.
»Und?« ermutigte die Frau.
»Ah, Lauren, es ist immer noch eine kalte Suppe.«
Der Junge legte sich im Gras zurück. Er war von dem neuen Wohnprojekt gegenüber der Straße aus über den hölzernen Geländerzaun und den Ziegelpfeilerzaun geklettert. Während des Sommers war keine Schule, und seine Mutter – Pflegemutter – mochte ihn nicht den ganzen Tag ums Haus haben. Oder überhaupt.
Hinter seinen geschlossenen Augen erschien eine gewaltige Klaviatur, und er tanzte auf den Tasten. Er liebte Musik.
Er öffnete die Augen und sah eine dünne, ergrauende Dame in einem Tweedkostüm, die sich über ihn lehnte und ihn anstarrte. »Du bist auf einem Privatgrundstück«, sagte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen.
Er rappelte sich auf und wischte Gras von seiner Hose. »Es tut mir leid.«
»Ich dachte, ich hätte jemanden hier draußen gesehen. Wie ist dein Name?«
»Pal«, antwortete er.
»Ist das ein Name?« fragte sie mißmutig.
»Pal Tremont. Das ist nicht mein richtiger Name. Ich bin Koreaner.«
»Na, und wie ist dein richtiger Name?«
»Meine Leute haben mir gesagt, ich soll ihn nicht mehr benutzen. Ich bin adoptiert. Wer sind Sie?«
Die graue Frau blickte ihn von oben bis unten an. »Mein Name ist Lauren Davies«, sagte sie. »Du wohnst in der Nähe?«
Er deutete über die Felder auf den dichtgedrängten Häuserstreifen.
»Ich habe das Land für diese Häuser vor zehn Jahren verkauft«, sagte sie.
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