Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
wo wir sind«, spottete Fischer.
    »Komm«, sagte von Ranke, aber er wußte, daß es zu spät war. Es würde zu einem Ende gelangen, aber zu den Bedingungen seines Freundes, und es mochte nicht erfreulich sein.
    »Auf der Durchgangsstraße zum Nirgendwo«, sagte die alte Frau.
    »Was?« Fischer türmte sich vor ihr auf. Sie starrte zu ihm hinauf wie zu einem verlorenen Sohn, auf ihrem Zahnfleisch glänzte Speichel.
    »Wenn Sie eine Auslegung wollen, setzen Sie sich«, sagte sie, deutete auf einen niedrigen Tisch und drei zerfetzte Rohr- und Lederstühle. Fischer blickte sie an, dann den Tisch.
    »Also gut«, sagte er plötzlich mit falscher Unterwürfigkeit. Wieder ein Spiel, erkannte von Ranke. Katz und Maus.
    Fischer rückte einen Stuhl für seinen Freund zurecht und setzte sich der alten Frau gegenüber. »Legen Sie Ihre Hände auf den Tisch, Handflächen nach innen, beide Hände, alle beide«, sagte sie. Sie taten es. Sie legte ihr Ohr auf den Tisch, so als lausche sie, ihre Augen wanderten zu den Lichtstrahlen, die durch das Strohdach drangen. »Arroganz«, sagte sie. Fischer reagierte nicht.
    »Eine Straße zum Feuer und zum Tod«, sagte sie. »Ihre Städte in Flammen, Ihre Frauen und Kinder – zu schwarzen Puppen schrumpfend, in der Hitze ihrer brennenden Häuser. Die Lager sind gefunden, und Sie finden sich gräßlicher Verbrechen angeklagt. Viele sind abgeurteilt und gehängt worden. Ihre Nation ist in Ungnade gefallen, Ihre Sache abscheulich.« Nun kam ein seltsames Licht in ihre Augen. »Nur Psychoten glauben an Sie, die Niedrigsten der Niedrigen. Ihre Nation wird zwischen Ihren Feinden aufgeteilt werden. Alles wird verloren sein.«
    Fischers Lächeln wankte nicht. Er nahm eine Münze aus seiner Tasche, warf sie vor die Frau, stieß dann den Stuhl zurück und stand auf. »Deine Karten sind genauso krumm wie dein Kinn, du schmutzige alte Hexe«, sagte er. »Laß uns gehen.«
    »Ich hatte dies bereits vorgeschlagen«, sagte von Ranke. Fischer machte keine Anstalten zu gehen. Von Ranke zog an seinem Arm, aber der SS-Oberleutnant befreite sich aus dem Griff seines Freundes.
    »Es gibt nur noch wenige Zigeuner, Hexe«, sagte er. »Bald wird es noch eine weniger geben.« Von Ranke schaffte es gerade noch, ihn vor die Tür zu drängen. Die Frau folgte und beschattete ihre Augen gegen das dunstige Licht.
    »Ich bin keine Zigeunerin«, sagte sie. »Sie haben nicht einmal die Worte erkannt?« Sie deutete auf die Buchstaben über der Tür.
    Fischer blickte flüchtig hoch, und die Erleuchtung des Erkennens dämmerte in seinen Augen. »Ja«, sagte er. »Ja, jetzt weiß ich es. Eine tote Sprache.«
    »Welche?« fragte von Ranke unbehaglich.
    »Hebräisch, denke ich«, sagte Fischer. »Sie ist eine Jüdin.«
    »Nein!« gackerte die Frau. »Ich bin keine Jüdin.«
    Von Ranke dachte, daß die Frau nun jünger aussehe oder wenigstens stärker, und sein Unbehagen wuchs.
    »Mir ist es egal, was du bist«, sagte Fischer ruhig. »Ich wünschte nur, wir wären in der Zeit meines Vaters.« Er tat einen Schritt auf sie zu. Sie zog sich nicht zurück. Ihr Gesicht wurde beinahe jugendlich mild, und ihr krankes Auge schien zu gesunden. »Dann gäbe es keine Bestimmungen, keine Regeln – ich könnte diese Pistole nehmen« – er klopfte auf sein Holster – »und sie auf deinen dreckigen Judenkopf richten und damit den vielleicht letzten Juden in Europa töten.« Er schnallte das Holster los. Die Frau richtete sich in der dunklen Hütte auf, als bezöge sie aus Fischers Beleidigungen Kraft. Von Ranke fürchtete um seinen Freund. Unbesonnenheit konnte sie in Schwierigkeiten bringen.
    »Dies ist nicht die Zeit unserer Väter«, erinnerte er Fischer.
    Fischer hielt inne, die Pistole in der Hand, sein Finger um den Abzug gelegt. »Schmutzige, stinkende alte Frau.« Sie sah nicht annähernd so alt aus wie beim ersten Betreten der Hütte, vielleicht überhaupt nicht einmal alt und sicherlich nicht gebeugt und gelähmt. »Da bist du heute nachmittag aber noch einmal knapp davongekommen.«
    »Sie haben keine Ahnung, wer ich bin.« Die Frau sang es halb, halb stöhnte sie es.
    »Scheiße«, fauchte Fischer. »Wir gehen jetzt und berichten von dir und deiner Hütte.«
    »Ich bin die Geißel«, hauchte sie. Ihr Atem roch noch in drei Schritten Abstand nach brennendem Stein. Sie wich in die Hütte zurück, aber ihre Stimme verebbte nicht. »Ich bin die sichtbare Hand, die Wolkensäule bei Tag und die Feuersäule bei Nacht.«
    Fischer lachte.

Weitere Kostenlose Bücher