Tangenten
Schweigen.
»Ich habe meine Gründe. Ich will etwas ein für alle Mal nachweisen.«
»Was soll das?« fragte Frederik und schaute gereizt drein. Niemand von uns billigt Theatralik.
»Ich stecke das Geld der Menschheit dorthin, wo unser Mund ist. Unseren wahrhaft kollektiven wissenschaftlichen Mund. Frederik, du kannst mir helfen, es zu erklären. Ihr wißt alle, welch guter Physiker Frederik ist. Besser für den Zuschuß, besser in den Feinheiten. Er ist viel besser, als ich es bin. Frederik, was ist die allgemein anerkannteste Theorie in der heutigen Physik?«
»Spezielle Relativität«, sagte Frederik ohne zu zögern.
»Und danach?«
»Quantenelektrodynamik.«
»Würdest du uns Schrödingers Katze erklären?«
Frederik blickte rund um den Tisch, offensichtlich etwas in die Enge getrieben. Dann zuckte er die Achseln. »Das letzte Stadium eines Quantenereignisses – einem Ereignis in mikrokosmischer Größenordnung – scheint durch eine Beobachtung definiert zu sein. Das heißt, das Ereignis ist unbestimmt, solange es nicht gemessen wird. Dann nimmt es eine von verschiedenen möglichen Zuständen an. Schrödinger schlug eine Verbindung von Quantenereignissen mit Ereignissen im Makrokosmos vor. Er regte an, eine Katze in einen abgeschlossenen Kasten zu stecken, sowie eine Vorrichtung, die den Zerfall eines einzigen radioaktiven Kerns anzeigen sollte. Sagen wir mal so: der Kern hat innerhalb einer willkürlichen Zeitspanne eine Chance fünfzig zu fünfzig zum Zerfall. Wenn er zerfällt, löst er die Vorrichtung aus, die einen Hammer auf eine Phiole mit Cyan fallen läßt. Das Gas wird im Kasten freigesetzt und tötet die Katze. Ohne den Kasten zu öffnen, kann der Wissenschaftler, der das Experiment durchführt, nicht wissen, ob der Kern zerfallen ist oder nicht. Da der endgültige Zustand des Kerns ohne eine vorherige Messung nicht bestimmt werden kann – und die Messung ist in diesem Fall das Öffnen des Kastens, um zu sehen, ob die Katze tot ist – legte Schrödinger nahe, daß die Katze selbst sich in einem unbestimmten Zustand befinde, weder lebendig noch tot, sondern irgendwo dazwischen. Ihr Schicksal ist ungewiß, bis ein geeigneter Beobachter den Kasten öffnet.«
»Und kannst du einige der Folgerungen dieses Gedankenexperiments erklären?« Marty sah selbst ein wenig wie eine Katze aus – eine, die einen Kanarienvogel gefressen hat.
»Nun«, fuhr Frederik fort, »wenn wir die Katze als geeigneten Beobachter ausschließen, scheint es, als gäbe es keinen Weg um den Schluß herum, daß die Katze weder lebendig noch tot ist, bis der Kasten geöffnet wird.«
»Warum nicht?« fragte Fauch, der Soziologe. »Ich meine, es scheint offensichtlich, daß nur ein Zustand möglich ist.«
»Ah«, sagte Frederik, der sich für das Thema erwärmte, »aber wir haben ein Quantenereignis mit dem Makrokosmos verbunden, und Quantenereignisse sind heikel. Wir haben eine große Anzahl an experimentellen Beweisen, die zeigen, daß Quantenzustände nicht definitiv sind, bis sie beobachtet werden, daß sie tatsächlich fluktuieren, interagieren, so als ob zwei oder mehr Universen – jedes ein potentielles Ergebnis enthaltend – ineinander verschlungen sind, bis der Physiker den Kollaps in den endgültigen Zustand durch die Beobachtung hervorruft: Messung.«
»Verleiht das dem Bewußtsein nicht gottähnliche Bedeutung?« fragte Fauch.
»Ja«, sagte Frederik. »Moderne Physik ist schwer auf dem Power-Trip.«
»Das ist doch alles nur theoretisch, nicht wahr?« fragte ich ein wenig gelangweilt.
»Nicht ganz«, sagte Frederik. »Experimentell nachgewiesen.«
»Würde nicht genausogut eine Maschine – oder eine Katze – als Messung dienen?« fragte Oscar, mein Biologen-Kollege.
»Das hängt davon ab, wie bewußt du eine Katze als Wesen betrachtest. Eine Maschine – nein, weil ihr Zustand nicht gewiß wäre, bis ein Physiker ihre Aufzeichnungen überprüft hätte.«
»Gewöhnlich«, sagte Parkes, dessen jugendliches Interesse geweckt war, »setzten wir Wigners Freund anstelle der Katze ein. Wigner war ein Physiker, der vorschlug, einen Menschen in den Kasten zu stecken. Wigners Freund wäre vermutlich bewußt genug, um zu wissen, ob er lebendig oder tot ist und würde den Fall des Hammers und das Zerbrechen der Phiole richtig interpretieren, das darauf hinweist, daß der Kern tatsächlich zerfallen ist.«
»Wunderbar«, sagte Goa. »Und diese nette kleine Fabel spiegelt die Haltung derer wider, die mit einer der
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