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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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tief auf der Nase. Albert Fischer, Oberleutnant der Waffen-SS, fuhr unterdessen. »Fünfunddreißig Kilometer«, sagte von Ranke vor sich hin. »Nicht mehr.«
    »Wir haben uns verirrt«, sagte Fischer. »Wir sind bereits sechsunddreißig gefahren.«
    »Soviel noch nicht. Wir müßten nun jede Minute ankommen.«
    Fischer nickte und schüttelte dann den Kopf. Seine hohen Wangenknochen und seine lange, scharfgeschnittene Nase akzentuierten nur die schwarze Uniform mit den silbernen Totenköpfen auf dem hohen, engen Kragen. Von Ranke trug einen breit gestreiften, grauen Anzug. Er war ein Untersekretär des Propagandaministeriums. Sie hätten Brüder sein können, obwohl der eine in der Tschechoslowakei, der andere im Ruhrgebiet aufgewachsen war. Einer war der Sohn eines Brauers, der andere der eines Kohlebergmanns. Sie waren sich zwei Jahre zuvor in Paris begegnet und hatten Freundschaft geschlossen. Nun fuhren sie mit einem Drei-Tage-Paß auf einer Sightseeing-Tour durch das Land.
    »Warte«, sagte von Ranke und spähte durch die Tropfen auf dem Seitenfenster. »Halt an!«
    Fischer bremste den Wagen ab und blickte in die Richtung, in die von Ranke deutete. Nahe am Straßenrand, jenseits eines Dickichts junger Bäume, stand ein niedriges, strohgedecktes Haus mit schmutzigen grauen Mauern, das beinahe vollständig vom Nebel verborgen wurde.
    »Sieht leer aus«, sagte von Ranke.
    »Es ist bewohnt. Siehst du den Rauch?« sagte Fischer. »Vielleicht kann uns jemand sagen, wo wir sind.«
    Sie fuhren den Wagen zur Seite und stiegen aus. Von Ranke ging den Weg über einen schlammigen Pfad, der mit nassem Stroh bestreut war, voraus. Aus der Nähe sah die Hütte sogar noch schmutziger aus. Rauch kräuselte sich in dunklen, braungrauen Schwaden aus einem Loch im First des Strohdaches. Fischer nickte seinem Freund zu, und sie näherten sich vorsichtig. Über der rohen, hölzernen Tür befanden sich unebene Buchstaben. Zusammen sprachen sie neun Sprachen, aber dieses Alphabet war ihnen beiden unbekannt. »Könnte das Roma sein?« fragte Fischer stirnrunzelnd. »Es sieht bekannt aus – wie slawisches Roma.«
    »Zigeuner? Roma leben nicht in solchen Hütten, und nebenbei: ich dachte, die wären schon lange deportiert worden.«
    »So sieht es jedenfalls aus«, wiederholte von Ranke. »Vielleicht sprechen wir ja trotzdem eine gemeinsame Sprache, wenn auch nur Französisch.«
    Er klopfte an die Tür. Nach einer langen Pause klopfte er erneut und die Tür öffnete sich, bevor seine Knöchel den letzten Schlag ausführten. Eine Frau, zu alt um am Leben zu sein, steckte ihre lange, holzfarbene Nase durch den Spalt und spähte zu ihnen heraus. Sie hatte nur ein Auge; das andere war von einer eingesunkenen Fleischmasse umhüllt. Die Hand, die die Türkante umfaßte, war schmutzig, die Nägel lang und schwarz. Ihr zahnloser Mund war zu einem runzligen, rundlippigen Grinsen verzogen. »Guten Abend«, sagte sie in perfektem, sogar elegantem Deutsch. »Was kann ich für Sie tun?«
    »Wir müssen wissen, ob wir auf der Straße nach Dole sind«, sagte von Ranke und unterdrückte seine Abneigung.
    »Da fragen Sie den falschen Führer«, sagte die alte Frau. Sie zog die Hand zurück, und die Tür begann sich zu schließen. Fischer stieß sie mit dem Fuß zurück. Die Tür schwang auf und knirschte in den Angeln.
    »Sie erweisen uns nicht den angemessenen Respekt«, sagte er. »Was meinen Sie mit ›dem falschen Führer‹? Welche Art Führer sind Sie denn?«
    »So stark«, sang die alte Frau, verschränkte die Hände vor ihrer ausgemergelten Brust und wich zurück in die Dunkelheit. Sie trug farblose, alterslose graue Lumpen. Verschlissene Strickärmel reichten bis zu ihren Handgelenken.
    »Antworten Sie!« sagte Fischer, der trotz des strengen Geruchs nach Urin und Verfall in die Hütte eintrat.
    »Die Karten, die ich kenne, sind nicht für dieses Land«, sang sie, vor einem kalten, leeren Herd schlotternd.
    »Sie ist verrückt«, sagte von Ranke. »Die örtlichen Behörden sollen sich um sie kümmern. Laß uns gehen.« Aber es war ein wilder Blick in Fischers Augen. So viel Schmutz, so viel Unordnung und Frechheit obendrein; all das machte ihn ärgerlich.
    »Welche Karten kennen Sie, verrückte Frau?« verlangte er zu wissen.
    »Karten der Zeit«, sagte die alte Frau. Sie ließ die Hände an ihren Seiten herabfallen und neigte ihren Kopf, als wäre sie durch das Zugeständnis ihrer Besonderheit plötzlich demütig geworden.
    »Dann sagen Sie uns,

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