Tango Mosel
Farbe unterscheidenden Hügel, von denen Gabi annahm, dass es sich um unterschiedliche Metallsorten handelte.
Während Meyer zu einer Baracke neben der Waage strebte, erklomm Gabi die Rampe und ging an dem letzten Wagen in der Schlange vorbei. Er war hoch beladen. Die Bracken waren von der Last nach außen gewölbt. Oben auf einem Schrotthügel stand ein Kleinwagen. Durch seine Frontscheibe hatte sich der Arm eines Krans gebohrt, um ihn am Abrutschen zu hindern.
Nebenan auf einem der Bahngleise fuhr langsam eine rote Diesellok mit offenen Waggons vorbei.
Am Führerhaus des Lasters waren die Scheiben heruntergedreht. Drinnen war niemand zu sehen. Erst im dritten Wagen entdeckte Gabi jemanden auf dem Beifahrersitz. Es war Rocky, der, die Beine auf das Armaturenbrett gelegt, in ein Taschenbuch vertieft war.
Als sie auf den Tritt an der Fahrerseite stieg, um Rocky zu begrüßen, erschien gleich die Zahnlücke in dem grinsenden Mund des Mannes. Seine Augen blieben ernst.
»Darf ich?«, fragte Gabi, öffnete die Wagentür, strich Krümel von dem speckigen Polster und ließ sich auf dem Fahrersitz nieder. Rocky klappte das Buch zu, wobei er den Zeigefinger zwischen den Seiten stecken ließ. Er setzte sich auf und schaute nach vorn zu seinen Kumpels, dann ließ er sich wieder in den Sitz sinken und legte die Füße hoch.
»So was lese ich auf Schrotttouren«, sagt er, als er Gabis Blick auf das Cover des Schmökers bemerkte. »Kafka oder Tolstoi kämen bei meinen Kollegen hier nicht so gut an.«
Gabi glaubte ihm kein Wort. Von ihrer erhöhten Position aus konnte sie sehen, dass die Schrotthändler weiter vorn mit Bierflaschen in den Händen zusammenstanden.
»Bei all dem Scheiß, den ich im Knast gelernt hab, war das Lesen etwas, das mir bis heute über vieles hinweggeholfen hat.«
Neben’an auf den Gleisen des Rangierbahnhofs rollten einzelne Waggons vorbei. Gabi zündete sich eine Zigarette an und hielt sie nach dem ersten Zug aus dem Wagenfenster.
»Nicht gerade diskret, hierher zu kommen.«
»Das war Meyers Idee, der weiß gar nicht, dass wir miteinander geredet haben. Ich bin nur mitgekommen, weil ich heute viel frische Luft brauche.«
»Haste gestern einen draufgemacht?« Sie sah Rockys Zahnlücke. Diesmal war auch das Lächeln in den Augen echt.
»Ich hatte was zu feiern, du Blödmann.« Sie nahm einen Zug an ihrer Zigarette und blies den Rauch aus dem Fenster. »Außerdem hab ich nicht damit gerechnet, dass du unter die Lumpenhändler gegangen bist.«
»Ich bin heute eingesprungen. Seit es den Job im Parkhaus nicht mehr gibt, schlage ich mich halt mit so was durch.«
»Hoffentlich nicht bei einem der Kupferräuber von der Baustelle.« Sie verjagte eine Fliege vom Lenkrad, die nun auf Rockys Laufschuh landete. Er beobachtete sie aufmerksam.
»Mit so einer Mücke hab ich mal geredet. Die war das einzige Lebewesen, mit dem ich über Wochen engeren Kontakt haben durfte. Ich war damals sechzehn und zum ersten Mal geschnappt worden.« Rocky nahm eine offene Coladose aus einem Getränkehalter. »In Frankreich, wir hatten ein Auto geklaut, von den Eltern, also nicht von meinen, die hatten nie eins. Von einem Kumpel. Wir wollten nach Spanien. Total bekloppt. Wir kamen nur bis in ein Bordell in Thionville.«
»Was hat das jetzt mit der Fliege zu tun?«
»Die Franzosen haben uns den deutschen Bullen übergeben. Ich kam zum ersten Mal in die JVA Wittlich, zuerst in den Jugendknast, das ging noch, wurde dann aber zu den Erwachsenen gesteckt, weil sie mich angeblich von meinen Mittätern isolieren wollten. Ich hab allein in der Zelle gesessen.«
Gabi zuckte zusammen, als es nebenan einen lauten Knall gab. »Jeder Häftling hat doch ein Recht auf Hofgang?«
»Ich durfte meine Runden ganz allein im Hof drehen. Und manchmal haben mich noch ein paar Deppen aus ihren Zellenfenstern beschimpft. Tag und Nacht hab ich allein in meiner Zelle gehockt. Vergiss nicht, ich war sechzehn. Ich hab mehr gelesen, als mancher Literaturstudent an der Uni. Die Bücher hab ich gar nicht mehr in Seiten, sondern in Zentimetern gemessen. Ein halber Meter im Monat war das Minimum.«
Die Fliege stupste brummend an der Scheibe entlang.
»Was war mit der Mücke?«, fragte Gabi.
»Ich hab praktisch wochenlang mit niemandem geredet. Auch keine Post bekommen, obwohl ich fast täglich an meine Eltern geschrieben hab. Die Schweine in der Staatsanwaltschaft haben die Briefe nicht weitergeleitet. Außer den Ausspeisern und den Schließern hab
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