Tango Vitale
Genen.«
Verübeln kann man uns das schlichte Ursache-Wirkung-Denken nicht, waren doch viele Forscher im Überschwang ihrer Entdeckerfreude noch bis vor kurzem selbst von der Allmacht der Gene überzeugt. Inzwischen rudern auch prominente Wissenschaftler zurück. Der Biochemiker und Genomforscher Craig Venter wurde durch seinen Erfolg in der Sequenzierung des menschlichen Genoms im Human Genom Project weltweit bekannt. Außerdem entzifferte er als erster Mensch seine eigene komplette DNA. Ernüchtert sagt er heute: »Wir erfahren aus dem Genom in Wirklichkeit nichts als Wahrscheinlichkeiten.« Seiner Ansicht nach hat das Projekt bisher wenig Nutzen gebracht, aber viele falsche Erwartungen geweckt. »Wir haben einfach immer nur auf die einzelnen Gene geguckt – weil wir eben nur diese |77| Gene hatten. Wenn Leute nachts ihren Schlüssel verlieren, dann suchen sie unter der Laterne. Und warum? Weil sie da etwas sehen können.« Beim Human Genom Project hatte man erwartet, auf 100 000 bis 300 000 Gene zu stoßen. Tatsächlich fand man nur etwa 40 000. Venter interpretiert das so: »Die Menschen dachten, dass für jede menschliche Eigenschaft ein Gen verantwortlich sei. Wenn Sie die Gier kurieren wollen, dann müssen Sie eben das Gier-Gen verändern, wenn Sie den Neid heilen wollen, das Neid-Gen. Aber so einfach ist es nicht. Wenn Sie wissen wollen, warum jemand Alzheimer bekommt oder Krebs, reicht es nicht, einzelne Gene anzugucken. Dazu muss man das gesamte Bild sehen. So steht es um unser Wissen vom Genom: Wir wissen nichts.« Er ist davon überzeugt, dass es weitaus mehr Informationen braucht, um etwa auf medizinischem Gebiet eine Aussage über einen bestimmten Menschen treffen zu können: »Informationen über Ihre Körperchemie, Ihre Physiologie, Ihre medizinische Geschichte, über Ihr Gehirn und über Ihr gesamtes Leben. All diese Informationen brauchen wir millionenfach und müssten sie mit den genetischen Daten korrelieren.« 14
Gene sind beeinflussbar
Venters Aussage wird von den aktuellen Ergebnissen der Epigenetik unterstützt. Bei dieser noch jungen Disziplin handelt es sich um ein Spezialgebiet der Molekularbiologie. Die griechische Vorsilbe epi bedeutet so viel wie »um … herum« oder »zusätzlich«. Epigenetisch sind demnach alle Prozesse in einer Zelle, die als zusätzlich zu den Inhalten und Vorgängen der Genetik gelten. Die Epigenetik befasst sich mit vererbbaren Veränderungen, die nicht in der DNA-Sequenz, dem Genotyp, festgelegt sind. Bisher hat man herausgefunden, dass die Aktivität vieler Gene auch von außen beeinflusst wird: Bestimmte Proteine heften sich an die DNA und helfen, dasjenige Enzym in Position zu |78| bringen, das den genetischen Code abliest. Die epigenetischen Marker stecken nicht in den Buchstaben der DNA, sondern verteilen sich auf dem Doppelhelixstrang. Dort wirken sie als eine Art Schalter, mit denen sich die Gene an- und ausknipsen lassen.
In den vergangenen Jahren haben Epigenetiker große Fortschritte im Verständnis dieser Steuermechanismen erzielt. Dabei wurde deutlich, dass das Epigenom für die Entwicklung eines gesunden Organismus ebenso wichtig ist wie die DNA selbst. Es kann zudem durch äußere Einflüsse wesentlich leichter verändert werden als die Gene. Damit entkräftet die Epigenetik die bislang vorherrschende Einstellung: Gene sind nicht starr, sondern bleiben ein Leben lang beeinflussbar. Wir können sie durch unseren Lebensstil aktivieren oder ausschalten.
Ein aufsehenerregendes Experiment gibt einen deutlichen Hinweis auf die Wirkung des Epigenoms: In der August-Ausgabe 2003 der Fachzeitschrift
Molecular and Cellular Biology
veröffentlichten Randy Jirtle und Robert Waterland von der Duke-Universität im amerikanischen Durham eine Studie. Darin wiesen sie an Mäusen nach, dass Umwelteinflüsse sogar genetische Mutationen überwinden können. Ihre Versuchstiere waren trächtige Mäuse mit dem abnormalen »Agouti-Gen«, das den Tieren ein gelbliches Fell verleiht und sie besonders gefräßig macht. Häufig sterben sie an Herzkrankheiten, Diabetes und Krebs.
In dem Experiment wurden fettleibigen gelben Agouti-Weibchen vor der Paarung und während der Trächtigkeit Nahrungszusätze wie Folsäure, Vitamin B12, Betain und Cholin ins Futter gemischt. Man wählte diese methylgruppenreichen Stoffe, weil sich in früheren Untersuchungen gezeigt hatte, dass die chemische Gruppe der Methyle bei epigenetischen Veränderungen eine Rolle
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