Tante Dimity und das verborgene Grab
Durchreisende riskierten hier ihre Achsen.
Der einzige Stolz von Finch lag jenseits des Dorfplatzes, etwa hundert Meter den Saint George’s Lane hinauf, inmitten eines mauerumsäumten Friedhofs mit bemoosten Grabsteinen und von riesigen Libanonzedern beschattet. Die SaintGeorgeKirche hatte den üblichen gemischten Stammbaum: eine angelsächsische Krypta, einen normannischen Turm und ein erfreulich schlichtes Äußeres, aber in ihrem Inneren barg sie einen Schatz, der sie über gewöhnliche Kirchen hinaushob.
Die Kirche verfügte über fünf mittelalterliche Fresken, am eindrucksvollsten darunter das Bild von Sankt Georg, wie er mit einem schlangenartigen Drachen kämpft. Die Fresken waren einst mit einer Gipsschicht bedeckt gewesen, und Derek Harris hatte sie sehr vorsichtig freigelegt und restauriert. Ich fand diese Bilder immer ein wenig gruselig, aber es waren sogar Fachleute aus dem Ausland gekommen, um sie zu sehen.
Als ich auf den Dorfplatz fuhr, bemerkte ich Bills Fahrrad – ein altmodisches schwarzes Modell mit drei Gängen und Gesundheitslenker –, das neben der Tür von Wysteria Lodge lehnte, einem völlig zugewachsenen Gebäude, in dem Bill sein Büro hatte. Wenige Menschen würden vermuten, dass die renommierte Bostoner Rechtsanwaltskanzlei Willis & Willis ihre europäische Zweigstelle in diesem bescheidenen Haus hatte, das halb unter Glyzinien verborgen war –
es sei denn, sie warfen einen Blick ins Innere.
Bills Vater hatte das Büro mit sämtlichen zur Verfügung stehenden elektronischen Hilfsmitteln versehen lassen, was bedeutete, dass Bill praktisch von Hamburg nach Padua reisen konnte, ohne Finch zu verlassen. Ich überlegte, ob ich jetzt hineingehen sollte – ich wollte ein Hühnchen mit ihm rupfen, weil er mir Peggy Kitchen auf den Hals geschickt hatte –, aber dann beschloss ich, zuerst mit dem Pfarrer zu sprechen.
Das Schulhaus nahm die nordöstliche Ecke des Dorfplatzes ein, und als ich an dem strittigen Gebäude vorbeikam, bemerkte ich, wie ein junger Mann Kartons aus einem Minibus lud und sie einer jungen Frau reichte, die sie in das Schulhaus trug. Beide trugen Khakishorts, bunte TShirts und feste Wanderstiefel, und ihr fröhliches Lachen war bestimmt auch in Peggy Kitchens Laden gut zu hören. Gott stehe ihnen bei, dachte ich, als ich in den Saint George’s Lane einbog und endlich vor dem Pfarrhaus hielt.
Bill und ich hatten unsere Hochzeit in diesem Haus gefeiert, und jeder Besuch brachte schöne Erinnerungen daran zurück. Trotzdem musste ich zugeben, dass dieses weitläufige, einstöckige Haus genauso heruntergekommen aussah wie der Rest von Finch. Es schien, als sei es durch die Hände einer Reihe von gleichgültigen Besitzern gewandert, genau wie mein Mini. Der große Garten, der das Haus umgab, war völlig verwildert. Lilian Bunting hatte kein Interesse daran –
sie war ein Büchermensch –, und der Pfarrer war der Ansicht, dass man die Natur ruhig dem lieben Gott überlassen könne.
Die Frau des Pfarrers kam mir an der Tür entgegen. Lilian Bunting war schlank und Mitte fünfzig, im Winter trug sie am liebsten Tweed und Twinsets, im Sommer Leinenkleider, und dazu das ganze Jahr über bequeme Schuhe. Sie begrüßte mich mit einem Lächeln. »Lori, meine Liebe, kommen Sie rein. Teddy ist schrecklich aufgeregt, und ich hoffe, Sie können ihm helfen.«
»Was ist denn passiert?«, fragte ich.
Lilian lachte. »Ich vermute, das werden Sie gleich erfahren. Aber Teddy soll Ihnen erst mal seinen Teil der Geschichte erzählen. Er kann es gar nicht erwarten, jemandem seine Schandtat zu beichten.«
Lilian führte mich in die Bibliothek, einen Raum, der die ganze Breite des hinteren Teils des Pfarrhauses einnahm und an dessen Wänden sich Bücherregale entlangzogen. Durch die bleiverglasten Fenster und die Terrassentür sah man über eine große Wiese, die steil zum baumbestandenen Fluss hin abfiel. Der Mahagonischreibtisch des Pfarrers stand vor der Terrassentür, jedoch so, dass man vom Sessel aus ins Zimmer blickte, als ob der Besitzer den Anblick der Bücher der Aussicht nach draußen vorzog.
Auf der anderen Seite wurde der Blick auf die Landschaft ohnehin von einem Dickicht aus Rhododendron versperrt.
Der Reverend Theodore Bunting saß zusammengesunken in einem Sessel beim Kamin. Er war groß, hatte kurzes graues Haar, eine Hakennase und graue Augen, in denen stets ein Ausdruck von Trauer lag. Über seinem schwarzen Hemd mit dem weißen klerikalen Stehkragen trug er
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