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Tante Dimity und der Fremde im Schnee

Tante Dimity und der Fremde im Schnee

Titel: Tante Dimity und der Fremde im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Atherton
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dann wirft ihn das Pferd ab, und als er auf dem Boden liegt, ist er ein kranker Mann in Lumpen. Er kommt direkt vor dem Cottage zu Fall, er sieht mich sogar durch das Fenster, aber ich sehe ihn nicht. Er liegt da und hält Anne Somervilles Spielzeugpferd in den Fingern. Seine Hände …« Ich schaute auf meine aufgeschrammten Knöchel und musste schlucken. »Seine Hände sind schwarz und verschrumpelt, wie Klauen.«
    Julian nickte, dann erhob er sich und ging zum Altar der Heiligen Jungfrau. Dort zündete er eine Kerze nach der anderen an, bis alle brannten, flammende Finger, die himmelwärts deuteten. Im Schein der Kerzen sah ich den Inhalt meiner Tasche, den ich auf dem Boden verstreut hatte. Ich stand auf, kniete mich hin und sammelte ihn wieder ein.
    »Hat Sie jemals ein Pferd abgeworfen?«, fragte Julian.
    »Ich habe nie auf einem gesessen.«
    »Und dennoch sind Sie abgeworfen worden.«
    Julian entzündete die letzte Kerze, dann bückte er sich und hob meinen vergoldeten Füllfederhalter auf, der unter das Kerzendeck gefallen war.
    Er rollte ihn zwischen den Fingern, bis sich das Gold im Schein der Kerzen brach, dann reichte er ihn mir. »Waren Sie schon immer reich?«
    »Sie machen wohl Witze!« Julians Fragen ergaben für mich keinen Sinn, aber immerhin lenkten sie mich von meinem Gefühlschaos ab.
    »Mein Dad starb kurz nach meiner Geburt, und meine Mum zog mich ganz allein groß. Wir waren nicht arm, aber wir waren nicht mal in Rufweite des großen Geldes.«

    »Sie sind also in dem Bewusstsein aufgewachsen, wie es ist, wenn man wenig hat«, meinte Julian.
    »Eigentlich nicht. Meine Mutter war diejenige, die verzichtete, damit ich alles bekam, was ich mir wünschte. Als ich meinen ersten Ehemann verließ, hatte ich keine Vorstellung davon, wie hart es sein würde, wieder bei null anzufangen.
    Ich besaß nichts.«
    »Abgesehen von einem scharfen Verstand«, sagte Julian.
    »Ich war zu deprimiert, um ihn einzusetzen.«
    Ich holte einen Schildpattkamm unter einer Kirchenbank hervor und steckte ihn in die Tasche.
    »Dann starb meine Mum, und alles wurde noch schlimmer. Ich hatte keine Familie, kein richtiges Heim, und ich schlug mich eben so durch. Irgendwann fing ich an darüber nachzudenken, was für ein Gefühl es wohl wäre, sich die Pulsadern aufzuschneiden.«
    Julian erbleichte. »Gütiger Gott …«
    »Nun, ich habe es nicht getan.« Ich schob die Ärmel meines Kaschmirmantels hoch und zeigte ihm meine glatten Handgelenke.
    »Dass Sie daran gedacht haben, ist schlimm genug.« Julian fuhr mit den Fingerspitzen über meine Handgelenke. »Was hat Sie abgehalten?«

    Ich lächelte verlegen, für den Augenblick hatte ich den heulenden Wind vergessen. »Ein Brief von einem reichen Anwalt«, antwortete ich.
    »Von Bill, meinem Mann, um genau zu sein.
    Dass er es werden würde, wusste ich natürlich nicht, als ich mich an jenem Abend auf den Weg in sein Büro …« Ich hielt den Atem an und sank gegen die Rückenlehne der Bank. Erinnerungen kamen zurück, als hätten die leuchtenden Kerzen auch die dunkelsten Kammern meines Gedächtnisses erhellt. »An jenem Abend«, wiederholte ich und sah eine ganz bestimmte Szene vor mir.
    »Der Wind heulte.« Ich sprach langsam, dann schneller, als das Bild sich verfestigte. »Ein Frühjahrssturm wehte. Schnee peitschte mir ins Gesicht, auf den Straßen lag Schneematsch. Ich war ganz schwach vor Hunger, und als Bill mir die Tür öffnete, spürte ich vor Kälte meine Zehen nicht mehr. Wenn er die Tür nicht geöffnet hätte
    …« Meine Stimme senkte sich zu einem Flüstern.
    »Es hätte mir genauso ergehen können wie Kit.
    Julian, ich hätte Kit sein können.«
    Ich spürte die Kälte, die vom Steinboden aufstieg, und nahm die Dunkelheit wahr, die hinter dem Licht der Kerzen lauerte. Ich wusste, wie empfindlich diese Balance war, wie schnell die Dunkelheit alles verschlingen konnte. Und ich wusste besser als die meisten, dass es jedem passieren konnte, wirklich jedem.
    Julian schwieg und sammelte den Rest meiner Habe zusammen, dann setzte er sich zu mir auf die Bank. »Es ist doch kein Wunder, dass Sie von Kit träumen und nicht von Bill«, sagte er schließ lich. »Sie und Kit haben gemeinsame Erfahrungen, die Ihr Ehemann nie ganz begreifen wird.
    Kit war ein Teil von Ihnen, noch bevor er auf Ihre Auffahrt stolperte.«
    Ich nickte. Julian hatte recht. Bill war in einer Welt des Geldes und der Privilegien aufgewachsen. Er hatte nie erfahren, was es heißt, zu hungern und zu

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