Tante Dimity und der Fremde im Schnee
frieren und ganz allein auf der Welt zu sein. Ich schon.
»Ich hatte es vergessen«, murmelte ich, mehr zu mir selbst. »Ich habe versucht, es zu vergessen.«
»Offenbar ist es an der Zeit, sich zu erinnern«, sagte Julian.
Ich fuhr mit der Handfläche über die Ärmel meines Kaschmirmantels und den feinen Tweedstoff meiner maßgeschneiderten Hose. Ich dachte an das weich gepolsterte Sofa in meinem Wohnzimmer und an die prall gefüllte Vorratskammer in meiner Küche. Das Cottage war ein gemütliches Nest, ein bequemer Kokon, wo nichts Böses geschah. War alles zu gemütlich, zu bequem?
Ich blickte zum Gesicht der Jungfrau hinauf, das über uns hing wie ein bleicher Mond in einer Sternenlosen Nacht. »Meine Mutter sagte, dass zu viel Behaglichkeit genauso schädlich für die Seele ist wie zu wenig.«
»Ihre Mutter«, sagte Julian, »war eine sehr weise Frau.«
Und eine gute Frau, dachte ich, was man von ihrer Tochter nicht unbedingt sagen kann. Ich senkte den Kopf, damit mich der Blick der Jungfrau nicht traf.
»Julian«, begann ich mit einer Stimme, die so leise war, als sei ich im Beichtstuhl. »Als ich Kit vor meinem Haus fand, wollt ich ihn zuerst nicht einmal anrühren. Es war nicht meine Idee, die Royal Air Force zu rufen, und ich hätte ihn auch nicht im Krankenhaus besucht, hätte mich nicht jemand dazu gedrängt. In Wahrheit bin ich nämlich keineswegs wie Kit. Meine Seele ist verschrumpelt vor Egoismus. Ich habe Kit nur geholfen, weil …«
»Weil er vor Ihrem Haus gelandet ist«, sagte Julian. »So etwas lässt sich schwerlich ignorieren.«
»Das sollte man meinen«, sagte ich verdrieß lich. »Aber ansonsten ignoriere ich Männer wie Kit die ganze Zeit. Manchmal wünsche ich mir, sie wären unsichtbar. Sie sind so …« Ich schämte mich, den Satz zu beenden.
»Widerlich?«, schlug Julian vor. »Ich stimme Ihnen zu. Sie riechen schlecht, sie sind hässlich, schwächlich – sie sind nichts wert.« Tröstend legte er seinen Arm um meine Schulter. »Ich kann mir nur einen einzigen Grund vorstellen, warum wir uns mit ihnen abgeben sollten.«
Ich schaute ihn an. Er wollte mich locken, und ich glaubte zu wissen, was ich sagen musste.
»Weil es Menschen sind?«, sagte ich.
»Nein«, entgegnete Julian. »Weil wir Menschen sind.«
In dem folgenden Schweigen glaubte ich die Stimme des Vikars von der leeren Kanzel zu hö ren. Lasst uns in dieser Zeit des Frohlockens für die Segnungen dankbar sein , derer wir teilhaftig sind , und lasst uns danach streben , diese Segnungen mit anderen zu teilen . Ich war für Dimitys Geschenk sehr dankbar gewesen, aber ans Teilen hatte ich nicht groß gedacht. Ich hatte ihre Gabe dazu benutzt, eine wunderschöne Welt zu erschaffen, in der niemand hungern oder frieren oder kränkeln musste, und ich hatte das Leid ignoriert, das hinter den engen Grenzen meiner Welt existierte. Vielleicht war Kit ein Engel, der zum Cottage geschickt worden war, um mich aus meiner hochnäsigen Selbstgefälligkeit zu rütteln.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Lori.« Julian schlug seine langen Beine übereinander und lehnte sich zurück. »Wenn es mir wundersamerweise gelingen sollte, Sankt Benedikt am Leben zu erhalten, könnten Sie mir doch dann und wann zur Hand gehen. Ich könnte Hilfe in der Küche gebrauchen, und die Männer, die Sie dort kennenlernen werden, dürften Ihre verschrumpelte Seele aufblühen lassen.« Er neigte seinen Kopf zu mir. »Aber die eigentliche Arbeit müssen Sie natürlich selbst leisten.«
»Welche da wäre?«
Mahnend hob er den Finger. »Achten Sie darauf, dass niemand, der Ihre Wege kreuzt, unsichtbar ist.« Er streckte die Hand aus, und ich ergriff sie, um die Abmachung zu besiegeln.
Hoch über uns schlug die Glocke von Sankt Joseph die Stunde, ein Klang, den die höhlenartigen Weiten der Kirche auf merkwürdige Art dämpften.
»Zehn Uhr.« Julian schürzte die Lippen. »Etwas spät, um noch nach Belgravia zu fahren.«
»Ich werde London nicht verlassen, bevor ich nicht mit Kits Schwester gesprochen habe«, sagte ich störrisch.
Julian zuckte mit den Schultern. »Dann übernachten wir eben hier und statten ihr morgen Früh einen Besuch ab. Vater Raywood sagte etwas von Feldbetten, und in der Küche ist es warm genug, um …«
»Nein.« Ich richtete mich etwas auf, brachte es aber nicht fertig, ganz von seinem warmen Arm abzurücken. »Das halte ich nicht für eine gute Idee.«
Er gab mir einen spielerischen Stoß. »Sie haben doch nicht etwa
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