Tante Dimity und der unbekannte Moerder
von Santa Claus bist.«
Nicholas zog zwei gelbe Stoffdinos aus der Brusttasche und drückte sie mir in die Hand.
»Für Will und Rob, wenn sie aufwachen.
Schließlich muss ich meinem Ruf gerecht werden, auch wenn es bis Weihnachten noch eine ganze Weile hin ist.« Bevor er die Tür öffnete, nahm er seinen Trenchcoat von der Garderobe.
»Danke für den wunderbaren Nachmittag, Lori.
Hoffentlich sehen wir uns vor meiner Abreise noch mal.«
»Das werden wir ganz bestimmt«, versprach ich und winkte ihm nach. Ich blieb in der Tür stehen, bis er die Auffahrt im Rückwärtsgang hinuntergefahren war, und kehrte auch danach nicht gleich um, sondern sog die üppigen Düfte des Frühlings in mich ein und lauschte noch einmal unserem Gespräch nach.
Mir war nicht ganz klar, ob Nicholas Fox begriffen hatte, wie extrem unwahrscheinlich es war, dass niemand etwas mitbekommen haben sollte. Hatte ein Mann, der in London lebte und arbeitete, überhaupt eine Ahnung davon, wie es in einem kleinen Dorf draußen auf dem Land zuging, wo so etwas wie Privatsphäre nicht existierte, wo niemand anonym für sich bleiben konnte und Tratsch sich so schnell ausbreitete wie überkochende Milch?
Ich schloss die Tür und ging ins Wohnzimmer zurück. Dort blieb ich nachdenklich vor dem Aquarell vom Crabtree Cottage stehen und sann über meine eigenen Erfahrungen nach. Lange bevor ich selbst bekannt geben konnte, dass meine Söhne ihre ersten Schritte getan hatten, hatte die Nachricht Finch bereits erreicht. Genauso sorgte Bills streng vertrauliche Mandantenliste im Peacock’s Pub regelmäßig für lebhafte Diskussionen. Und über den Mord wusste niemand auch nur das Geringste?
Mein Blick schweifte ruhelos über das Gemälde, von der grünen Tür des Cottage zum feinen bernsteinfarbenen Zierwerk am Verandadach, und hielt schließlich bei der Regenrinne über dem Wohnzimmerfenster inne. Unmittelbar dahinter war Mrs Hooper erschlagen worden, direkt am Hauptplatz eines Dorfes voller Klatschbasen, die die Nase in wirklich alles steckten –
doch keiner hatte etwas gesehen oder gehört?
Das ergab beim besten Willen keinen Sinn für mich.
Aber vielleicht wurde jemand anderes daraus schlau. Ich brauchte dringend jemanden, der sich gut mit den Angelegenheiten im Dorf auskannte und wusste, wie die Leute hier tickten, und wie es Zufall und Glück wollten, war mir auch schon klar, wo ich diese Person finden würde. Ich bat Annelise, die Jungen im Auge zu behalten, und lief schnurstracks ins Büro.
Es war höchste Zeit, Tante Dimity zu Rate zu ziehen.
5
MIT DEM COTTAGE hatte ich nicht nur das Gebäude geerbt, das ich nun mein Zuhause nannte, sondern auch ein paar Überraschungen.
Die größte davon war die dauerhafte Anwesenheit einer bemerkenswerten Dame namens Dimity Westwood.
Dimity Westwood war die engste Freundin meiner Mutter gewesen. Die beiden Frauen hatten sich im Zweiten Weltkrieg kennen gelernt, als sie in England ihren jeweiligen Vaterländern dienten, und die Freundschaft auch später aufrechterhalten, nachdem die Bomben längst aufgehört hatten zu explodieren. Die Briefe, in denen sie einander von ihren Freuden, Sorgen und den lebenswichtigen Bagatellen des Alltags erzählten, gehörten zu meinen liebsten Schätzen.
Tante Dimity war die Begleiterin meiner Kindheit gewesen, aber nur als fiktive Gestalt in einer langen Serie von Gutenachtgeschichten. Die richtige Dimity Westwood lernte ich erst nach ihrem Tod kennen, als sie mir ein beträchtliches Vermögen, ein honigfarbenes Cottage in den Cotswolds und ein in blaues Leder gebundenes Büchlein mit leeren Seiten vermachte.
Und es war dieses blaue Tagebuch, über das ich zum ersten Mal meine Gedanken mit Tante Dimity austauschte. So, wie sie früher Briefe an meine Mutter geschrieben hatte, schrieb sie jetzt an mich, nur von einem Ort, der dem Himmel sehr viel näher lag als dem Dörfchen Finch.
Immer wenn ich das Tagebuch aufschlug, kam Leben in seine Seiten, und sie füllten sich mit Dimitys eleganter, altmodischer Handschrift, die in einer Zeit an der Dorfschule gelehrt worden war, als es noch überall Hufschmiede gegeben hatte. Erklären konnte ich dieses unirdische Phänomen nicht, sondern nur demütig und dankbar das Geschenk annehmen, dass Dimity Westwood auch im Tod die außergewöhnliche Persönlichkeit blieb, die sie im Leben gewesen war.
Eine knappe Handvoll Menschen teilte das Geheimnis des blauen Tagebuchs mit mir. Dazu gehörten Bill, Kit und Emma, nicht aber
Weitere Kostenlose Bücher