Tante Dimity und der unbekannte Moerder
auf sie ist.«
»Was immer ihr tut, bitte beeilt euch«, drängte der Pfarrer. »Die Spannung schlägt mir allmählich auf den Magen.«
Mr Wetherheads Häuschen war in jeder Hinsicht so bescheiden wie sein Eigentümer. Das einstö ckige Sandsteingebäude stand ein gutes Stück zurückgesetzt von der Gasse inmitten eines Gartens, der kaum mehr als eine kahle Rasenfläche war. Man konnte meinen, der pensionierte Eisenbahner widme seine ganze Zeit und Liebe den Miniaturlandschaften für seine Modelleisenbahn, sodass nichts mehr für die lebensgroße Landschaft um sein Haus herum übrig blieb.
Er wirkte irgendwie verunsichert darüber, dass Nicholas und ich an diesem verregneten Morgen bei ihm vor der Tür standen. Er zupfte am Kragen seines karierten Hemdes herum, beantwortete meinen Gruß mit kaum verständlichem Gemurmel und vergrub die Hände in den Taschen seiner Cordhose, ehe er zu Nicholas aufsah.
»Sie sind der Neffe«, sagte er ohne Umschweife. »Falls Sie Geld für die Kirche sammeln, können Sie Ihrem Onkel ausrichten, dass ich jeden Sonntag großzügig spende.«
Ich staunte über seine ungewohnt direkte Art.
Der George Wetherhead, den ich kannte, hätte stillschweigend seine letzten zwei Pennys hergegeben, allein schon um Gerede zu vermeiden. Die Behandlung durch Miranda hatte offenbar nicht nur seinen Körper gekräftigt, sondern auch sein Inneres.
»Wir sammeln nicht«, versicherte ich ihm und hielt ihm die Schachtel mit Lilians süß-saurem Gebäck entgegen. »Wir wollten Ihnen nur etwas vorbeibringen.«
Er beäugte die Schachtel misstrauisch. »Was ist das?«
»Tante Lilian hat gestern Abend Zitronenstangen gebacken«, erklärte Nicholas. »Da hat sie sich gedacht, dass Sie vielleicht …«
Mr Wetherheads Anspannung ließ nach. »Zitronenstangen? Ich dachte schon, Sie wollten mir eine Ladung von den abscheulichen Ingwerplätzchen der Pyms andrehen, so wie allen anderen auch. Hab das Zeug noch nie ausstehen können.
Aber Zitronenstangen – das ist was anderes.«
Ich konnte geradezu hören, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Darum beschloss ich, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war.
»Da wir schon mal hier sind, würde es Ihnen große Mühe bereiten, Nicholas Ihre Eisenbahn zu zeigen?«
»O ja, bitte«, stimmte Nicholas ein. »Ich würde Ihre Eisenbahn für mein Leben gern sehen.
Lori hat mir so viel darüber erzählt.«
»Wahrscheinlich … Hm, na gut. Das Museum ist zwar erst wieder ab Mai geöffnet, aber für den Neffen des Pfarrers kann ich wohl eine Ausnahme machen …«
Ich hatte schon öfter gesehen, wie sich Männer mit dem Betreten von Mr Wetherheads bescheidener Wohnstatt schlagartig in Kinder zurückverwandelten. Sein Wohnzimmer wurde beherrscht von mehreren auf Sägeböcken aufgelegten Pressspanbrettern, auf denen George Wetherhead mit verblüffender Detailtreue eine Gebirgslandschaft im Miniaturformat errichtet hatte. Die schneebedeckten Gipfel und grünen Täler waren so realistisch dargestellt, dass ich fast schon damit rechnete, im nächsten Moment eine Forelle aus dem glitzernden Fluss springen zu sehen. Exakt verlegte Gleise wanden sich von einem Bergdorf zum nächsten, zogen sich durch Felder, Bauernhöfe und Wälder und überquerten auf einer raffiniert gebauten Bockbrücke den Fluss.
Diese erstaunliche Demonstration handwerklichen Geschicks verschlug mir jedes Mal aufs Neue die Sprache. Nicholas dagegen zeigte sich nicht ganz so überwältigt. Er sagte die richtigen Worte und fand den angemessen ehrfürchtigen Ton dafür, doch während er sprach, wanderte sein suchender Blick vorbei am Mini-Matterhorn zur geschlossenen Tür am anderen Ende des Raums.
»Tante Lilian hat mir gesagt, dass Sie auch eine bemerkenswerte Sammlung an Erinnerungsstücken zum Thema Eisenbahn haben«, begann er und machte einen Schritt zur Tür hin. »Sind die in diesem Zimmer hier?«
»Der Raum mit den Erinnerungsstücken ist für die Öffentlichkeit geschlossen«, verkündete Mr Wetherhead.
»Ach, bitte, seien Sie doch so freundlich.« Nicholas näherte sich weiter der Tür. »Lori ist doch nicht die Öffentlichkeit. Sie ist eine alte Freundin, und ich hoffe, dass Sie mich auch bald als …«
»Halt! Stehen bleiben!«, rief Mr Wetherhead, doch obwohl seine Beweglichkeit sich deutlich gebessert hatte, war er nicht schnell genug, um Nicholas daran zu hindern, ins Nachbarzimmer vorzudringen.
Mr Wetherhead humpelte aufgebracht hinterher, und ich bildete zögerlich die Nachhut.
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