Tante Dimity und der unerhoerte Skandal
aber ich bedeutete ihr, sie noch zu behalten, und fragte nach dem Weg zur St. Bartholomäus Kirche. Ich hatte es Nell noch nicht beigebracht, aber ich war entschlossen, mir diese verdammten Glocken anzusehen, ehe ich wieder mit Bill sprach. Er würde bestimmt fragen, warum wir nach Haslemere gefahren waren, und ich hatte es noch nie fertig gebracht, ihn überzeugend anzulügen. Ich musste ihm etwas sagen können, das der Wahrheit entsprach, selbst wenn es nur die halbe Wahrheit war.
Miss Coombs beugte sich wieder über die Karte, dann gab sie sie mir. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Miss« – sie sah auf die Anmeldung hinunter und wiederholte kühl – »Miss Shepherd?«
»Danke vielmals, aber ich glaube, im Moment nicht.« Ich verließ das Büro ohne den geringsten Zweifel, dass die Ärmste bis über beide Ohren in Vetter Gerald verknallt war. Ich blieb im Flur stehen, um meinen Trauring an die Kette mit dem herzförmigen Medaillon zu hängen, das Bill mir geschenkt hatte, als er mir den Heiratsantrag machte, dann lief ich die Treppe hinauf. Ich war äußerst zufrieden mit mir. In weniger als zwanzig Minuten hatte ich erfahren, wo Gerald Willis zu finden war, hatte eine seiner Verehrerinnen kennen gelernt und herausgefunden, dass er ein heruntergekommenes Haus renovierte – zweifellos war er dabei, es in ein Liebesnest für seine ländlichen Eroberungen zu verwandeln. Ich konnte es nicht erwarten, Nell mit meiner Spürnase zu beeindrucken, deshalb riss ich stürmisch die Tür zu unserem Zimmer auf – und blieb wie angewurzelt stehen.
Eine Fremde beugte sich über das Bett bei der Tür, und es sah aus, als wühlte sie in meinem Koffer.
»Entschuldigung«, sagte ich energisch, worauf sie sich umdrehte, aber ich musste sie lange und genau ansehen, ehe ich merkte, dass diese Fremde, die keinen Meter entfernt vor mir stand, Nell war.
Selbst ihr eigener Vater hätte zwei Mal hinsehen müssen.
Nell Harris zog sich immer gut an. Sie hatte einen guten Geschmack, und ihr Kleiderschrank wurde von keiner Geringeren bestückt als der berühmten Nanny Cole, einer alten Freundin der Familie Harris und Londons begehrtester Modeschöpferin. Ich war in meinem liebsten leichten Sommerpulli, Jeans und Turnschuhen nach Haslemere gekommen, aber Nell hatte eine schicke Bundfaltenhose aus Gabardine getragen, dazu eine brave weiße Leinenbluse mit zarter Stickerei an Kragen und Manschetten.
Das trug sie jetzt aber nicht mehr.
Nell hatte ihre Bundfaltenhose gegen eine hauchdünne schwarze Strumpfhose und einen äu ßerst knappen schwarzen Lederrock eingetauscht, hatte ihre kindliche Bluse mit einem hautengen schwarzen Rollkragenpullover vertauscht und sich außerdem in einen viel zu großen schwarzen Blazer gehüllt, den sie an der Taille mit einem breiten schwarzen Ledergürtel eng zusammengezogen hatte. Dazu hatte sie sich einen schwarzen Glockenhut über ihre Locken gestülpt. Bertie, der das Geschehen mit gleichgültiger Miene vom Sekretär aus beobachtete, trug einen blauweiß gestreiften bretonischen Fischerpullover und eine winzige schwarze Baskenmütze. Beide sahen aus wie Figuren aus einem ShirleyTempleFilm mit Drehbuch von JeanPaul Sartre.
Ich schloss die Tür hinter mir und sah Nell misstrauisch an. »Nicolette Gascon, vermute ich.«
» Mais oui «, erwiderte Nell, wobei sie ihren Hut berührte. »Wie findest du meine Verkleidung? Für dich habe ich auch eine mitgebracht.« Sie deutete mit dem Kopf auf mein Bett, wo sie einen streng geschnittenen dunkelgrauen Tweedrock und Blazer ausgebreitet hatte, die ich vor Jahren in die hinterste Ecke meines Schrankes verbannt hatte, dazu eine perlgraue Seidenbluse, flache schwarze Pumps und einen plumpen schwarzen Aktenkoffer von Derek.
»Und was stelle ich dar? Mitarbeiterin eines Bestattungsinstituts?«, fragte ich, indem ich den Stoff des Tweedrockes zwischen den Fingern befühlte.
»Nein«, erwiderte Nell. »Du bist Williams persönliche Assistentin.«
Nell wandte sich wieder dem Auspacken zu, während ich mich in dem pfirsichfarbenen Sessel neben dem Sekretär niederließ und die Arme verschränkte. Das Zimmer war reizend – zimtfarbene Wände und hübsche Bettüberwürfe mit Blumendekor, vor einem breiten Erkerfenster ein Schreibtisch mit Marmorplatte, auf dem in einer Porzellanvase frische Blumen standen, und auf dem Sekretär neben Bertie ein zierliches Schälchen mit duftendem Potpourri. Ich war besonders dankbar, dass wir ein eigenes Bad hatten. Das
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