Tante Dimity und der unerhoerte Skandal
die in den Wald hineinführte.
›Die Lärchen‹ stand in grünen Buchstaben darauf.
»Vetter Gerald ist seine Privatsphäre offenbar sehr wichtig«, bemerkte ich, als ich vorsichtig in die Einfahrt bog. Es waren keine weiteren Häuser zu sehen und wir fuhren gut fünfzig Meter, ehe wir die ›Lärchen‹ erspähten.
Es war nicht das, was ich erwartet hatte. Vetter Geralds Waldversteck war ein nüchternes einstö
ckiges Gebäude aus grauem Stuck, an dessen unscheinbarer Haustür zu beiden Seiten ein paar dürre Sträucher dahinvegetierten. Wofür Gerald auch immer sein Geld ausgeben mochte, für sein Haus sicherlich nicht.
»Was für ein hässlicher Kasten«, rief Nell aus.
»Schrecklich«, stimmte ich zu. »Aber keine Spur von Williams Auto«, bemerkte ich, als ich den Motor abstellte.
»Vielleicht steht es hinten«, schlug Nell vor.
»Soll ich mal nachsehen?«
»Zu spät«, sagte ich.
Unsere Ankunft war bereits bemerkt worden.
Die Haustür hatte sich geöffnet und eine große, grobknochige Frau in einem baumwollenen Hauskleid stand auf der Schwelle und wischte sich die Hände an der Schürze ab, wobei sie uns aufmerksam ansah.
»Überlass mir das Reden«, sagte ich leise zu Nell, als wir ausstiegen. Dank meiner Streifzüge auf der Suche nach seltenen Büchern hatte ich reichlich Erfahrung mit Hausdrachen gesammelt, und auch dieser hier würde mich nicht verjagen.
Ich ergriff meine Aktentasche und, gefolgt von Nell, die ein paar Schritte hinter mir blieb, ging ich entschlossen zur Haustür. »Mein Name ist Lori Shepherd«, sagte ich, »und ich hätte gern Mr Gerald Willis gesprochen.«
»Natürlich«, sagte die Frau mit einem entwaffnenden Lächeln. Sie fasste nach dem grauen Knoten an ihrem Hinterkopf. »Ich hole ihn. Möchten Sie nicht eintreten …«
»Ist schon in Ordnung, Mrs Burweed«, rief eine tiefe Männerstimme aus dem Haus. »Ich kümmere mich um unsere Besucher, gehen Sie ruhig zu Ihren Sahnebaisers zurück.« Mrs Burweed nickte freundlich und verschwand wieder im Haus, und einen Moment später erschien ein Mann an der Tür.
»Hallo«, sagte er. »Ich bin Gerald Willis.«
8
WENN EIN ENGEL eins neunzig groß sein kann, mit sanft gewelltem kastanienbraunem Haar, einem vollen Mund und einem fein geschnittenen Kinn, das so glatt ist wie das eines Chorknaben –
dann war Gerald Willis ein Engel. Seine blaugrü nen Augen leuchteten wie Gletschereis und wurden von langen dunklen Wimpern und hübsch geschwungenen Brauen überschattet. Er trug eine Brille mit kleinen runden Gläsern, und als er sie abnahm und lächelte, erschien ein Grübchen in seiner linken Wange.
Mir war, als hörte ich Engelschöre singen.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er mit Nachdruck, als ob er es schon einmal gesagt hätte.
Er war ungefähr so alt wie Bill, aber fit, sein Bauch war so flach wie ein Kornfeld in Nebraska.
Er trug ein altes dunkelbraunes Baumwollhemd, das er in seine Jeans gesteckt hatte, die vom vielen Waschen schon ganz ausgebleicht war. Der schwarze Ledergürtel, den er um die Hüfte trug, erinnerte mich an den, den Nell um ihren riesigen Blazer geschlungen hatte. Er war genauso überflüssig – Geralds gut sitzende Jeans brauchten durch nichts gehalten zu werden.
»Kommen Sie wegen des Telefons?«, fragte er.
Ich versuchte zu sprechen. Ich fühlte, wie meine Lippen sich bewegten, aber es kamen keine Worte, und so stand ich da und sah vermutlich aus wie ein Fisch auf dem Trockenen.
»Nein, wir sind nicht wegen des Telefons gekommen.« Nells Stimme schien von einem entfernten Planeten zu kommen. »Ich bin gekommen, um meinen Großvater zu sprechen. Ich weiß, dass er mich nicht sehen will, aber ich lasse mich nicht abweisen.« Und in perfektem Bühnenflüstern an mich gewandt, fügte sie hinzu: »Es tut mir Leid, dass ich Sie angelogen habe, Miss Shepherd, aber ich muss Ihren Chef persönlich sprechen. Pardonnezmoi … « Worauf Nell schnurstracks an dem sprachlosen Vetter Gerald vorbei ins Haus marschierte und rief: »Großpapa! Ich weiß, dass du hier bist! Bitte komm heraus!«
Er ist ein Schürzenjäger, sagte ich mir eindringlich. Er ist eine Bedrohung für Willis senior. Er ist – Großpapa? Nells Worte waren endlich in mein umnebeltes Hirn durchgedrungen, und ich sah Vetter Gerald verwirrt an. Großpapa? Nach welchem Drehbuch spielten wir denn jetzt?
»Ach herrje«, sagte Gerald und verzog mitfühlend das Gesicht. »Müssen Sie für Ihren Chef Babysitter spielen?«
Ich
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