Tante Dimity und der unerhoerte Skandal
zaghaft.
»Aber Maman ist so krank, und ich hatte gehofft, Großpapa hier zu finden und ihm zu sagen, dass sie ihn bbraucht …« Sie stöhnte leise, dann ließ sie den Kopf hängen und weinte, als ob ihr das Herz brechen wollte.
Gerald saß kerzengerade und war völlig verstört. Ratlos sah er mich an, dann zog er ein Taschentuch aus seiner Tasche und bot es Nell an, die es jedoch zurückwies und in einen französischen Wortschwall ausbrach, in dem die Begriffe »Tod«
und »Verzweiflung« ziemlich oft vorkamen. Sie war fantastisch. Gerald klopfte ihr auf den Rücken und murmelte beruhigende Worte, und als er sie überredet hatte, sein Taschentuch doch anzunehmen, sah er aus, als ob er bereit sei, alles zu glauben, was Nell ihm erzählte.
Das war auch gut so, denn die Geschichte, die Nell jetzt zum Besten gab, hätte ein tolles Libretto für eine tragische Oper abgegeben.
9
WÄHREND DER NÄCHSTEN vierzig Minuten kam ich aus dem Staunen nicht heraus. Ich war überwältigt und beschämt von Nells Unverfrorenheit und ihrer Überzeugungskraft. Vetter Gerald hörte reglos zu, und als Nell die Geschichte zu ihrem tragischen Abschluss gebracht hatte, glaubte ich selbst fast, dass alles, was sie erzählte, wahr sei.
Nicolette Gascon war niemand Geringeres als die uneheliche Enkelin von Willis senior. Nicolettes Mutter war Regina, Willis seniors einzige Tochter, die nach Paris durchgebrannt war, um mit Howard Gascon, einem englischen Austauschstudenten und brotlosen Künstler, zusammenzuleben, den sie in Harvard kennen gelernt hatte, wo sie Kunstgeschichte studierte.
Howard Gascon hatte Regina und Nicolette drei Jahre zuvor verlassen – »Weil ein Künstler libre sein muss«, wie Nell mit der leidenschaftlichen Überzeugung der liebenden Tochter erklärte –, aber trotzdem waren Mutter und Tochter ganz gut klargekommen, bis vor sechs Monaten, als Regina an etwas erkrankt war, das verdächtig nach Schwindsucht klang.
Wegen dieser Krankheit hatte Regina ihren Job in einem Café am Montmartre verloren und war immer tiefer in Armut geraten, konnte sich jedoch nicht an ihren Vater um Hilfe wenden – Willis senior hatte seine Tochter wegen ihres skandalösen Verhaltens enterbt und bis zum heutigen Tage seine einzige Enkelin weder gesehen noch anerkannt.
Nicolette hatte gehört, dass sich ihr Großvater in England aufhielt – »von einem der gentils Männer, die Maman ab und zu besuchen« – und hatte sich per Anhalter von Paris zum Ärmelkanal durchgeschlagen, wo sie ihren letzten Cent für eine Fahrkarte ausgegeben hatte, mit der sie nach London gekommen war. Hier hatte sie gehofft, mit Willis senior sprechen und ihn dazu bewegen zu können, sich um seine Tochter zu kümmern.
»Ich muss Großpapa zur Einsicht bringen«, schloss sie. »Ohne seine Hilfe landen wir auf der Straße.« Nells Augen suchten meine. »Es tut mir Leid, dass ich Sie angelogen habe, Miss Shepherd, aber ich hatte Angst. Ich fürchtete, Sie würden mich nicht mitnehmen, wenn Sie wüssten, wer ich wirklich bin.«
»Und Sie arbeiten für William Willis?«, fragte Gerald, an mich gewandt.
»Ich bin seine persönliche Assistentin«, antwortete ich ohne zu zögern. Nells bravouröse Vorstellung hatte mich ermutigt. »Mr Willis und ich kommen oft geschäftlich nach London. Nicolette tauchte heute früh im Hotel auf, kurz nachdem sich mein Chef auf den Weg nach Haslemere gemacht hatte. Ich hatte noch nie von ihr gehört, aber da es in Boston noch Nacht war, konnte ich mich ja nicht erkundigen. Dann kamen diese Schriftstücke an, die Mr Willis sofort sehen musste, und da ich das Mädchen ja nicht allein in London lassen konnte … ich hatte versucht, Sie vorher anzurufen.«
»Aber Sie sind nicht durchgekommen.« Gerald nickte. »Das Telefon funktioniert immer noch nicht einwandfrei. Vorhin wurde der erste Anruf seit drei Tagen mitten im Satz wieder unterbrochen.«
»Es tut mir Leid, dass ich Sie so überfalle«, sagte ich, was ich ehrlich meinte. Es schien mir unfair, diesen gut aussehenden Mann so hinters Licht zu führen.
»Keine Ursache. Aber ich fürchte, ich habe schlechte Nachricht für dich, ma petite «, fuhr er fort, wobei er die Hand auf Nells Arm legte. »Dein Großvater war hier, aber er ist vor zwei Stunden wieder abgefahren.« Nell seufzte ausdrucksvoll, und Gerald drückte aufmunternd ihren Arm.
»Aber ich kann dir sagen, wo er hingefahren ist.«
» Vraiment? «, fragte Nell, und ihr Gesicht hellte sich auf.
»Er ist nach
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