Tante Dimity und der unerhoerte Skandal
jetzt die Geschäftsleitung übernommen.«
Mein Herz sank geradewegs bis durch den schä bigen Teppich. Es stimmte also. Willis senior wollte nach England. Er wollte mich in dem großen Haus in Boston allein lassen, allein mit seinem unsichtbaren Sohn und in direkter Nachbarschaft mit seinen Schwestern, die wie Stabheuschrecken aussahen. Meine Stimmung verdüsterte sich und ich brauchte einen Moment, ehe ich antworten konnte.
»Glauben Sie, dass Lucy diesen Vorschlag interessant finden wird?«, fragte ich.
»Das könnte ich mir vorstellen.« Ein Ausdruck des Bedauerns lag auf Geralds Gesicht, als er sich zur Seite drehte, um durch die großen Fenster in den Garten zu schauen. »Seit ich aus der Firma ausgeschieden bin, ist Lucy chronisch überlastet.«
»Ich hatte gehört, dass Sie nicht mehr dort arbeiten«, sagte ich zögernd. »Um ehrlich zu sein, ich habe so einige Gerüchte gehört …«
»Wir alle machen Fehler, Miss Shepherd.« Gerald sah mich an, dann stand er auf und ging langsam zur Terrassentür, wo er in den Wald hinaus sah. Sein kastanienbraunes Haar glänzte in der tief stehenden Nachmittagssonne, die jetzt hereinschien. »Wie ich Ihrem Chef schon erzählte, ich stand damals unter großem Druck – ich hatte anspruchsvolle Klienten und arbeitete jeden Abend bis spät …«Er sah über die Schulter. »Bestimmt kennen Sie auf Ihrer Seite des Atlantiks dieselben Schwierigkeiten.«
Ich nickte, und er wandte sich wieder zum Fenster.
»Ich machte mir auch Sorgen um meinen Vater, Thomas Willis. Er ist ein großartiger Mensch.«
Gerald verschränkte die Arme und seufzte. »Er hatte die Geschäftsleitung inne, bis sein Herz nicht mehr mitmachte. Das war vor drei Jahren, und ein paar Monate lang dachte ich, ich würde ihn verlieren. Mit der Sorge um ihn und dem Versuch, normal weiterzuarbeiten, sind mir … sind dann Fehler passiert. Also bin ich gegangen.«
»Um … hierher zu kommen?«, fragte ich und blickte verstohlen zu dem scheußlichen elektrischen Feuer hinüber.
Geralds strahlendes Lächeln war zurückgekehrt, als er mich ansah. »Dieses Anwesen mag nicht jedem wie ein Paradies erscheinen, aber für mich ist es gerade richtig. Außerdem habe ich jetzt Zeit für meinen Vater, und das ist das Wichtigste.«
»Ja«, gab ich zu, »das ist das Wichtigste.« Ich sah auf seine breiten Schultern, die sich als dunkle Silhouette gegen den grüngoldenen Schatten des Waldes abzeichneten, und ich verspürte ein plötzliches Verlangen, mit Willis senior zu sprechen, ehe er zu Lucy fuhr. Ich wollte ihm sagen, dass ich Zeit für ihn haben würde, selbst wenn Bill keine hatte.
Entschlossen stand ich auf. »Es tut mir Leid, Gerald, aber ich muss ins Hotel zurück.«
»Sie bleiben nicht zum Tee?«, fragte er. Er schien ehrlich enttäuscht.
»Ich kann es nicht«, sagte ich und mein Herz flatterte, als er auf mich zukam. »Es ist … es sind die Papiere, die Mr Willis unterschreiben muss. Ich hatte sie über der Sache mit Nicolette völlig vergessen und … und überhaupt. Ich muss versuchen, ihn zu erreichen und davon in Kenntnis zu setzen, dass die Dokumente da sind, und da Ihr Telefon immer noch nicht funktioniert …«
»Ich verstehe«, sagte Gerald, »aber es tut mir Leid, dass Sie so schnell wieder wegmüssen. Es hat mich gefreut, mich mit Ihnen zu unterhalten.«
»Ich … äh … mich auch.« Ich sah in diese blaugrünen Augen und fragte mich, ob es wirklich so wichtig war, wieder ins Georgian zurückzukehren.
Nell erlöste mich von meinen Zweifeln, indem sie gerade in diesem Moment von ihren Untersuchungen im Obergeschoss zurückkam. Sie hatte nichts dagegen, sofort abzufahren, vielmehr schien sie irgendwie erleichtert.
Gerald begleitete uns zur Haustür und machte sie auf, dann bat er uns, zu warten, und verschwand wieder im Flur. Sowie er uns den Rücken gekehrt hatte, schoss Nell aus der Tür und rief:
» Regardez le lapin !«
Ein Kaninchen? Neugierig spähte ich hinter Nell her, als sie um die Hausecke verschwand. Dann musste ich lächeln. Sie hatte wieder einmal einen ihrer klugen Einfälle. Jemand, der sie durch das Fenster gesehen hätte, würde denken, dass die kleine Nicolette tatsächlich völlig entzückt einem englischen Kaninchen nachliefe, aber ich wusste es besser. Nell hatte kein Interesse an der Fauna des Gartens. Sie wollte nachsehen, ob das Auto von Willis senior hier irgendwo stand.
Nach fünf Minuten kam sie zurück und rief mir zu, dass sie im Mini auf mich warten würde.
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