Tante Dimity und der unerhoerte Skandal
London zurückgefahren.«
»Nach London?«, rief ich entsetzt.
»Ich glaube, er will morgen meinen Vetter und meine Cousine besuchen«, erklärte Gerald. »Ich kann Ihnen aber die Adresse geben.« Er stand auf und ging hinüber zu dem ramponierten Schreibtisch.
» Vous êtes très gentil , Monsieur Willis , très généreux – un véritable ange «, sagte Nell überschwänglich. Dann drehte sie sich zu mir um und sagte: »Großpapa wird bestimmt in sein Hotel zurückkehren. Ich glaube sicher, dass ich ihn morgen dort finden werde.«
Ich verstand genau, was sie meinte. Beruhige dich, sollte das heißen. Wenn William die Nacht in London verbringt, dann wohnt er im Flamborough, wo Miss Kingsley sich um ihn kümmern wird, bis wir eintreffen.
»Ich muss mich entschuldigen, dass ich so übertrieben reagiert habe«, sagte Nell, indem sie aufstand. »Ich sehe bestimmt schrecklich aus. Bitte, dürfte ich Ihr salle de bain benutzen?«
» Bien sur «, sagte Gerald. »Er ist oben gleich an der Treppe. Aber sei vorsichtig mit dem Geländer«, warnte er, »es sitzt nicht sehr fest.«
Nell sah nach ihrem Ausbruch eher noch hübscher aus als sonst, ihre Wangen waren gerötet und in ihren langen Wimpern funkelten Tränen, aber mir war völlig klar, was sie in Wirklichkeit mit ihrem Besuch im Badezimmer bezweckte. Mit Sicherheit würde nun Vetter Geralds oberes Stockwerk durchsucht werden. Ich hielt Nell für übertrieben misstrauisch – Gerald hätte uns sicher nicht gesagt, wo Willis senior zu finden sei, wenn er seine Leiche oben in einer finsteren Kammer versteckt hätte –, aber ich spielte mit, schon um weitere Peinlichkeiten für Nell und mich zu vermeiden.
»Sie werden also nicht noch heute Abend nach London zurückkehren?« Gerald kam vom Schreibtisch zurück, einen Zettel in der Hand.
»Ich bin es nicht gewohnt, in England zu fahren, Mr – Gerald«, gab ich zu. »Ich möchte es im Dunkeln nicht riskieren.«
»Das kann ich Ihnen nicht verdenken«, sagte er und lächelte verständnisvoll. Er gab mir den Zettel, setzte sich neben mich und sagte wie nebenbei:
»Wenn Sie möchten, können Sie hier übernachten.«
»Dadanke«, stotterte ich und merkte, wie ich rot wurde. »Aber wir haben uns schon im Georgian einquartiert.«
»Dort sind Sie bestens aufgehoben«, sagte Gerald, und obwohl ich sein Gesicht genau beobachtete – was leicht war, da unsere Knie sich fast berührten –, konnte ich keine Spur von Ironie oder Verlegenheit bei ihm feststellen. Er schien keine Ahnung zu haben, welche Wirkung er auf die Hotelangestellten ausübte.
Ich meinerseits hatte eine ziemlich klare Ahnung, was für eine Wirkung er auf mich ausübte.
Ich musste sehr viel Selbstdisziplin aufbringen, um mich nicht an ihn zu lehnen, als ich den Zettel in die Tasche meines Blazers steckte, und obwohl ich wusste, dass es noch weitere Fragen gab, fielen sie mir beim besten Willen nicht ein.
»Arbeiten Sie schon lange für William?«, fragte Gerald.
»Gleich nach dem College habe ich bei ihm angefangen«, antwortete ich. Nell war nicht die Einzige, die improvisieren konnte.
»Und Sie haben nichts von seiner Tochter oder von Nicolette gewusst?« Gerald hielt den Kopf schief. »Wie merkwürdig.«
»Ich wusste, dass er private Probleme hatte«, versicherte ich ihm, »aber Mr Willis trennt sorgfältig Berufliches von Privatem.«
»Sehr vernünftig«, sagte Gerald.
»War es ein angenehmer Besuch für Sie?«, wagte ich mich vor. Ich fing an, mich sicherer zu fühlen, und es war leicht, sich mit Gerald zu unterhalten.
»Es war mir ein Vergnügen, Vetter William kennen zu lernen«, sagte Gerald, »aber ich glaube, ihm hat es nicht viel geholfen. Er wollte etwas über eine Frau namens Julia Louise wissen, und über einen Familienzwist, der irgendwann im achtzehnten Jahrhundert stattgefunden hat. Aber ich fürchte, darüber weiß ich weniger als er. Ich habe ihn an meine Cousine Lucy in London verwiesen. Sie kennt sich aus in der Familienchronik.«
Also beschäftigt Willis senior sich tatsächlich mit früheren Familienangelegenheiten, dachte ich.
Genau das, wovor Dimity uns gewarnt hatte. »Hat Mr Willis Gelegenheit gehabt, seine Vorschläge mit Ihnen zu diskutieren?«, fragte ich, da mir im Augenblick die Gegenwart wesentlich wichtiger erschien als die Vergangenheit. »Ich meine seine Plä ne, in Europa eine Zweigstelle zu gründen?«
»Er hat sie erwähnt«, bestätigte Gerald. »Aber auch da habe ich ihn an Lucy verwiesen. Sie hat
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