Tante Dimity und der unerhoerte Skandal
unserer Ankunft in London hatte ich Dr. Hawkings für eine Routineuntersuchung und einen Test aufgesucht und ihm die Genehmigung gegeben, es von den Dächern ausrufen zu lassen, falls das Testergebnis positiv sein sollte, aber ich wusste, es würde nicht positiv sein. Ich brauchte weder Honoria noch Charlotte, um mich daran zu erinnern, dass Willis senior noch immer kein Enkelkind hatte.
»Du scheinst nicht zu verstehen«, sagte ich hartnäckig. »Bill arbeitet Tag und Nacht, und wenn er nicht arbeitet, dann ist er fast immer so müde, dass er kaum seinen Kopf hochhalten kann, geschweige denn …«
Emma unterdrückte ein prustendes Lachen und schüttelte meine Schulter. »Du musst an etwas anderes denken«, sagte sie entschlossen. »Warum rufst du Stan Finderman nicht mal an? Oder noch besser, warum gehst du nicht ins Dorf und unterhältst dich mit Mrs Farnham? Sie war dreiundvierzig, weißt du, ehe sie …«
Ich zuckte zusammen. »Hör auf!«, sagte ich.
»Wenn du Mrs Farnham und ihre Wunderdrillinge noch einmal erwähnst, dann schmeiße ich mit Radieschen.«
»Ich versuche ja nur …«
»Vielen Dank«, sagte ich kurz, »aber ich sehe nicht, wie der Gedanke, dass ich bis dreiundvierzig warten soll, ehe ich ein Kind bekomme, mich aufmuntern könnte!«
In dem Augenblick klingelte das Handy im Schubkarren, und froh über die Unterbrechung wühlte ich in den Radieschen. Es war ein robustes Modell, ein Weihnachtsgeschenk von Derek, zu dem ihn Bills Bemerkung inspiriert hatte, dass es für Derek leichter wäre, mit seiner Frau zu sprechen, wenn er im Garten eine Telefonzelle installierte.
Eine Telefonzelle wäre wirklich praktischer gewesen, da Emma als ehemalige Informatikerin eine ziemlich burschikose Einstellung zu dieser Art von HighTechSpielzeug hatte. Das Handy war mehr als einmal unter Hacke und Rechen geraten, und auch schon mal gedüngt und beinahe kompostiert worden.
Also war der Fundort in einem Schubkarren voller Radieschen ziemlich normal. Ich zog es aus dem grü
nen Gewirr und reichte es Emma, dann schlenderte ich zu den Gurkenbeeten hinüber, um dort zu warten, bis Emma ihr Gespräch beendet hatte.
»Das war Nell«, rief sie und warf das Handy wieder in den Schubkarren. »Sie sagt, dass William nicht im Haus ist.«
»Er war dort, als ich weggegangen bin«, sagte ich, während ich wieder zu ihr rüberkam.
»Ja, aber Nell sagt, jetzt ist er nicht da. Und übrigens …« Emma bückte sich, um eine Plane über den Schubkarren zu ziehen, sie sah nachdenklich aus. »Wann hast du zuletzt etwas von Dimity gehört?«
»Wie meinst du das?«, fragte ich und blieb stehen. »Tante Dimity ist nicht mehr im Haus.«
Emma richtete sich auf. »Ja, aber Nell sagt, dass William verschwunden ist. Und sie scheint der Meinung zu sein, dass Tante Dimity mit ihm gegangen ist.«
Mein Magen schlug einen Purzelbaum und die Erde schien unter meinen Füßen zu schwanken.
»Tante Dimity?«, sagte ich schwach. »Wie …?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Emma. »Jedenfalls fahren wir jetzt sofort zu dir rüber. Komm.« Sie nahm den Strohhut ab und warf ihn auf die Plane, wobei ihr aschblondes Haar ihr bis zur Taille fiel.
Mit zügigen Schritten machte sie sich auf den Weg zum Hof vor ihrem Haus, wo ihr Auto stand.
Ich sah einen Augenblick sprachlos den Schubkarren an, dann rannte ich los, um sie einzuholen.
»Wenn Nell mich zum Besten hält …«, fing ich an, aber ich beendete den Satz nicht. Wenn Nell Harris mich zum Besten hielt, dann müsste ich es mir gefallen lassen. Nell Harris war kein Kind, mit dem man schimpfte.
Trotzdem, sagte ich mir, als ich in Emmas Auto stieg, es musste eine Art von Scherz sein. Mein Schwiegervater war ein freundlicher und sehr höflicher Mensch, ein Gentleman. Er war so zuverlässig wie der Sonnenaufgang. Er würde nie etwas so Rücksichtsloses tun wie einfach zu »verschwinden«. Er war kein Mensch, der zu spontanen Handlungen neigte.
Das sagte ich Emma, als wir ihre lange, azaleenbewachsene Zufahrt entlangfuhren. »William macht nicht einmal einen Spaziergang nach Finch, ohne mir Bescheid zu sagen«, erinnerte ich sie.
»Und dass Tante Dimity mit ihm gegangen ist – unmöglich.«
»Warum?«, fragte Emma.
»Weil sie tot ist!«, rief ich ungeduldig.
»Das hat sie doch früher auch von nichts abgehalten«, gab Emma zu bedenken.
Ich spürte ein schwaches Kribbeln im Magen.
»Stimmt«, sagte ich. »Aber ich meine wirklich tot.
Nicht so wie früher.«
Emma sah mich von der Seite
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