Tante Dimity und der unerhoerte Skandal
würde.
26
DAS DORF OLD Warden hätte die Kulisse für ein Märchen sein können. Als unsere Limousine majestätisch die Hauptstraße entlangglitt, hätte ich am liebsten aus allen Fenstern gleichzeitig geschaut, wie ein typischer Tourist.
Winzige Hexenhäuschen säumten die Straße, jedes in einem eigenen kleinen Gärtchen; einige lugten über grüngoldene Hecken, andere waren von üppigen Rhododendren umgeben, und all das vor einem Hintergrund dunkler Fichten. Die meisten Häuschen waren hellgelb gestrichen, aber keines war wie das andere.
Ein Cottage hatte winzige Erkerfenster, auf denen Reetdachkegel wie kleine Zipfelmützen saßen, sowie einen riesigen hohen Schornstein, dessen unterschiedlich gefärbte Ziegel ein spiralförmiges Muster wie in einer Zuckerstange bildeten.
Daneben stand die Miniaturausgabe eines Tudorhauses mit schmalen gotischen Fenstern und einem Schornstein, der aussah wie ein zierlicher Wachturm. Es gab Dächer mit einer tief heruntergezogenen Reetdachperücke und andere, die in kunstvollen Mustern mit Dachziegeln gedeckt waren. Es gab rosenumrankte Türen, Sprossenfenster mit rautenförmigen Scheiben, runde Gauben und Stirnbretter mit bogenförmig ausgesägten Verzierungen, wobei all diese verspielten Details stark verkleinert und der Größe der Häuschen angepasst waren, so dass es aussah wie ein Spielzeugdorf.
»Wo sind wir denn hier?«, fragte Bill, als er aus dem Fenster sah. »Bei Schneewittchen und den sieben Zwergen?«
»Nein«, erwiderte Nell, »das ist das Dorf, das Lord Ongley geschaffen hat. Es ist pittoresk.«
»Wie man sieht«, sagte Bill.
»Sie meint den Baustil«, mischte ich mich ein.
»So heißt er: Pittoresk.« Nell war nicht die Einzige, die von Dereks Wissen profitierte. »Es ist die romantische Antwort auf die Symmetrie des Klassizismus – verspielt statt präzise, eine Art verrückter rustikaler Fantasie. Vielleicht fand Lord Ongley die Aussicht auf das ursprüngliche Dorf nicht besonders schön und ersetzte sie deshalb durch etwas, das ihm besser gefiel.«
»Die gute alte Zeit«, murmelte Bill und verdrehte die Augen. Plötzlich packte ich ihn aufgeregt am Arm und bat Paul, anzuhalten. »Sieh mal«, sagte ich, »Fasanen!«
Nell und Bill suchten mit den Augen die Straße ab, aber ich zeigte nach oben. Das blassgelbe Haus zu unserer Linken hatte einen riesigen Schornstein aus roten Ziegeln, der mitten auf einem dick mit Reet gedeckten Dach thronte, das über den drei Dachfenstern, die sich in gleichem Abstand zueinander befanden, eine elegante dreifache Wellenlinie beschrieb. Auf dem verzierten Dachfirst hoben sich zwei Fasanen aus Reet gegen den Himmel ab.
»Jetzt verstehe ich, warum Lucy gelacht hat, als sie dir beschrieb, wie Onkel Toms Haus zu finden ist«, sagte Bill, der ebenfalls hochsah.
Paul setzte uns ab und sagte, er lasse den Wagen nicht gern unbeaufsichtigt, aber ich hatte den Verdacht, dass ihm in Wirklichkeit ein stilles, schattiges Plätzchen vorschwebte, wo er in Ruhe den Spionagethriller weiterlesen konnte, den er sich von Swann geliehen hatte. Wir winkten ihm nach, Bill öffnete das weiße Gartentor in der grüngoldenen Hecke, und wir überquerten den schnupftuchgro
ßen Rasen bis zur Haustür. Ich drückte auf den Klingelknopf, wartete und wollte gerade wieder klingeln, als eine blonde Frau in einem schlichten blauen Kleid um das Haus herum kam.
»Ich hatte doch richtig gehört«, sagte sie, indem sie auf uns zukam. Sie war Mitte vierzig, untersetzt und athletisch, mit einem runden rosigen Gesicht und grauen Augen, die mich an die von Miss Kingsley erinnerten – kompetent, intelligent, aber auch Respekt gebietend. Sie stellte sich als Schwester Watling, die Pflegerin, vor.
Ich erzählte ihr, wer wir seien, und fragte, ob wir Thomas Willis sprechen könnten. »Wenn er dazu in der Lage ist«, fügte ich hinzu. »Ich habe ihm etwas von seiner Nichte Lucy auszurichten.«
Schwester Watling zog eine Augenbraue in die Höhe, sagte aber nichts, als wir ihr um das Haus herum zu einer kleinen gefliesten Terrasse folgten.
Von hier aus blickte man über einen langen, abfallenden Rasen, hinter dem sich die weite Ebene von Bedford erstreckte.
Onkel Tom lag, von Kissen gestützt, auf einer Chaiselongue, den Blick auf die grüne Weite gerichtet. Obwohl es ein schöner, warmer Nachmittag war und sich kaum ein Lüftchen regte, war er in ein ganzes Nest von Decken eingepackt und hielt das Gesicht in die Sonne. Sein Haar war weiß, sein Gesicht
Weitere Kostenlose Bücher