Tante Dimity und der verhaengnisvolle Brief
war als der im Cockpit.
Doch sobald ich allein in meinem Wagen saß, konnte ich mir ein schadenfrohes Kichern nicht mehr verkneifen.
Es war schon fast neun Uhr abends, als ich endlich unser Cottage betrat. Will, Rob und Stanley schliefen bereits, Annelise las im Wohnzimmer, und Bill schlug sich im Büro die Nacht um die Ohren. Ich plauderte kurz mit Annelise, dann sah ich bei den Jungs – und Stanley – nach dem Rechten und zog mich schließlich ins Arbeitszimmer zurück.
Reginald schien froh darüber zu sein, seine Nische wieder ganz für sich allein zu haben, und auch wenn ich Hamish vermisste, bedauerte ich kein bisschen, dass ich ihn seinem rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben hatte. Kenneths so schrecklich verdrehtes Herz hatte jede Hilfe bitter nötig.
Es dauerte lange, bis ich Dimity alles erklärt hatte. Es gab ja auch enormen Nachholbedarf: die Ergebnisse von Emmas Recherchen, die Adoption von Stanley, Gabriels Dinner, Kenneths bornierte Rechtfertigung, Dorothys Machenschaften und Mr Moss’ Offenbarungen, die alles Bisherige zu einem kohärenten Ganzen fügten. Dimity lauschte, ohne eine Bemerkung abzugeben. Seit Jahren hatte sie die Gewohnheit, den verwickelten Bahnen meiner Gedankengänge zu folgen – bis ich endlich verstummte, mich in meinen Ohrensessel zurückfallen ließ und den Blick auf das Notizbuch senkte.
Das hast du gut gemacht , Lori .
»Wirklich?«, fragte ich. »Die Suche nach Kenneth kommt mir vor wie die reinste Zeitverschwendung, seit ich weiß, wes Geistes Kind er ist.
Dimity, das ist ein ganz erbärmliches Weichei, ein wertloser Schmarotzer ohne Rückgrat, ein sich windender kleiner Wurm! Er hat es nicht verdient, eine Schwester wie Miss Beacham zu haben.«
Das vielleicht nicht . Aber sie liebte ihn trotzdem . Du hast Kenneth um ihret- , nicht um seinet-willen aufgestöbert . Und das hast du wirklich gut gemacht .
»Wie konnte sie ihn nur lieben? Er hat Dorothy ihr vorgezogen, und Dorothy ist …« Ich überlegte angestrengt, welche von den schlimmen Bezeichnungen, die mir durch den Kopf schossen, die übelste war, und entschied mich schließlich für:
»Sie ist all das, was ich nie sein will. Sie ist das glatte Gegenteil von Miss Beacham, und trotzdem hat Kenneth sie geheiratet und seine Schwester verlassen. Warum konnte Miss Beacham ihn danach immer noch lieben?« Er war ihr kleiner Bruder , und sie betete ihn an . »Er war ihr kleiner Bruder und ließ sie sitzen!«, konterte ich. »Wenn ich an die Bilder im Fotoalbum denke, könnte ich heulen, Dimity. Einer nach dem anderen verschwindet Miss Beachams Familie ganz einfach. Erst ihr Vater, dann ihre Mutter, dann Kenneth, bis Miss Beacham am Ende ganz allein am Pier von Brighton steht.«
Sie mag allein gewesen sein , aber sie war nicht einsam . Kenneth war ihr wichtig , das ja , aber von ihm hing ihr Glück nicht ab . Als sie ihre leibliche Familie verlor , schuf sie sich aus ihren Freunden und Nachbarn , die ihr etwas bedeuteten , eine neue .
Es gibt die Familie , in die man hineingeboren wird , und es gibt die Familie , die man sich wählt . Nach allem , was du mir erzählt hast , hat Miss Beacham eine gute Wahl getroffen .
Ich musste an die Tränen denken, die geflossen waren, als die Nachricht von Miss Beachams Tod in der Travertine Road die Runde gemacht hatte, und plötzlich begriff ich: Dimity hatte recht. Miss Beachams Herz war groß genug gewesen, um jeden mit einzuschließen, selbst einen Bruder, der sie verachtet und zurückgestoßen hatte.
»Das ist doch wirklich merkwürdig, Dimity«, sinnierte ich laut. »Zweimal ist mir heute gesagt worden, dass ich wie Miss Beacham bin. Glaubst du, dass ich eine Chance habe, in ihre Fußstapfen zu treten? Wenn ich vielleicht weniger rede und mehr zuhöre und endlich damit aufhöre, ungeduldig, reizbar und launisch zu sein?« Ich blickte ängstlich ins Notizbuch. »Glaubst du, dass ich eine Chance habe?«
Wenn du dir all das abgewöhnen würdest , meine liebe Lori , würde dich niemand mehr erkennen .
Aber ja doch , ich kann ohne zu zögern bestätigen , dass du unbedingt eine Chance hast .
Epilog
DER GEDENKGOTTESDIENST FAND an einem wunderschönen Aprilvormittag statt. An den Tü ren vieler Läden und Handwerksbetriebe in der Travertine Road hingen Schilder mit der Aufschrift HEUTE GESCHLOSSEN, und Father Musgrove fand sich in einer zum Bersten mit Menschen und Blumen gefüllten Kirche wieder.
Allein das Personal des Gateway to India nahm eine ganze Sitzreihe
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