Tante Dimity und der verhaengnisvolle Brief
»Sie wissen ja ganz schön viel über mich.«
»Es war alles andere als leicht, Sie zu finden«, erklärte ich. »Wir mussten eine ganze Menge Recherchen anstellen. Deshalb weiß ich jetzt auch, dass Ihr Sohn ein Jahr nach der Hochzeit geboren wurde. Wusste Ihre Schwester, dass sie einen Neffen hatte?«
»Natürlich!« Kenneth wirkte zutiefst verletzt.
»Ich habe ihr immer wieder was geschickt: Fotos, Videos, Kopien von seinen Zeugnissen. Sie wusste alles über ihn!«
»Hat sie ihn je getroffen? Hat sie je mit ihm gesprochen?«
Kenneth rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. »Als die Entscheidung feststand, sie aus unserem Leben rauszuhalten, hatte es doch keinen Sinn, sie in seines hineinzulassen. Das hätte den Jungen nur verwirrt.«
Das musste ich Kenneth lassen. Seine Argumentation entbehrte nicht einer gewissen Logik. Sie war meiner Meinung nach grausam und wahnsinnig, aber durchaus konsequent.
Gabriel trank einen kleinen Schluck von seinem Whiskey und musterte Kenneth nachdenklich.
»Hatte eigentlich die Geburt Ihres Sohnes Einfluss auf Ihre Entscheidung, den Nachnamen zu ändern?«
»Indirekt«, antwortete Kenneth. »Wir hatten seine Zukunft im Auge. Mein Schwiegervater ist ein kluger Geschäftsmann, aber er hat sich alles selbst aufgebaut. Ein festes Mitglied der oberen Zehntausend war er nicht. Er gehörte einfach nicht dazu. Dorothy wollte ihrem Sohn aber unbedingt einen Stammplatz in der guten Gesellschaft sichern.
Sie glaubte, es würde auf die Leute, auf die es ankommt, einen guten Eindruck machen, wenn wir unsere Namen kombinieren und bei meinem die Schreibweise ändern. Und es hat tatsächlich geklappt. Dorothy hat dafür gesorgt. Sie hat bei den richtigen Wohltätigkeitsclubs mitgearbeitet, die richtigen Leute eingeladen und darauf geachtet, dass unsere Kleidung zu den Anlässen passt.« Geistesabwesend betastete er das Revers seines Sakkos.
»Wir haben Walter einen Vorsprung im Leben verschafft.«
»Wäre Lizzie da nicht von Vorteil für Dorothy gewesen?«, fragte Gabriel. »Ihre Schwester war immerhin eine wohlhabende Frau.«
»Sie verhielt sich aber nicht so«, entgegnete Kenneth gereizt. »Sie hätte es nicht nötig gehabt zu arbeiten, trotzdem behielt sie ihre Stelle als Anwaltssekretärin und trottete jeden Morgen in die Kanzlei. Dorothy fand das äußerst peinlich.«
»Peinlich?«, rief ich.
»Jawohl, peinlich !« Kenneth beugte sich kampfeslustig vor. »Die Frauen in unseren Kreisen arbeiten nicht für ihren Lebensunterhalt. Außerdem plaudern sie nicht mit Verkäufern, Pennern, Taxifahrern und Gott weiß wem. Meine Schwester war ein guter Mensch, aber leider hatte sie die entsetzliche Gewohnheit, sich mit den unpassendsten Leuten anzufreunden. Es gab Momente, in denen es mir die Schamesröte ins Gesicht trieb, mit ihr gesehen zu werden.«
Ich machte den Mund mehrmals auf und zu, aber bevor ich Kenneth sagen konnte, wohin genau er sich seine Schamesröte stecken konnte, schaltete sich Gabriel ein.
»Kenneth«, sagte er hastig, »wie haben Sie erfahren, dass Ihre Schwester krank war?«
»Sie hat im Büro angerufen.« Kenneth ließ sich in seinem Sessel zurücksinken und strich das Sakko glatt. »Meine Assistentin überwacht normalerweise alle Anrufe, aber sie war an diesem Tag nicht an ihrem Schreibtisch, sodass ich selbst abnahm. Und als Lizzie mich bat, nach Oxford ziehen zu dürfen, habe ich es ihr erlaubt.« Er funkelte mich böse an.
»Ich bin kein Ungeheuer, Ms Shepherd. Ich hätte nie zugelassen, dass meine Schwester ganz allein mit einer so schlimmen Krankheit fertig werden muss.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und schoss einen Blick auf ihn ab, der eine gehörige Portion Gift enthielt. »Sie haben Ihre Schwester aber nicht zu sich nach Hause eingeladen, oder?«
»Machen Sie sich nicht lächerlich!«, blaffte Kenneth. »Dorothy hätte sie nie aufgenommen. Als Lizzie von London nach Oxford gezogen war, regelten wir es so, dass wir uns zweimal in der Woche in einem Café in der Travertine Road zum Mittagessen trafen. Ich hielt es nicht für notwendig, das mit Dorothy zu besprechen, und Lizzie sah das genauso. Sie verstand meine Situation gut.«
»Ihre Schwester war eine sehr verständnisvolle Frau«, knurrte ich.
»Wie hat Ihre Frau rausgefunden, dass Lizzie in Oxford lebte?«, erkundigte sich Gabriel. »Ich kann doch annehmen, dass sie dahintergekommen ist, oder?«
Kenneth seufzte. »Dorothy ist eines Tages unangemeldet im Büro
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