Tante Dimity und der verhaengnisvolle Brief
in Tücher eingeschlagenen Brotlaib. »Das ist Rosinenbrot.
Nach Miss Beachams Rezept gebacken. Ich wollte sie damit überraschen, aber jetzt …« Meine Stimme brach. Ich räusperte mich und holte tief Luft.
»Möchten Sie es mit den anderen Schwestern teilen?«
»Aber gern.« Schwester Willoughby legte die mit Sommersprossen übersäte Stirn teilnahmsvoll in Falten. »Möchten Sie mit Father Bright sprechen? Er ist gerade auf der Station und kümmert sich um seine Schäfchen.«
Father Julian Bright war der katholische Priester, der das Heim der St. Benedict’s Church für obdachlose Männer leitete. Er kam jeden Tag ins Radcliffe, um jene Mitglieder seiner übel beleumdeten Herde aufzusuchen, die über Nacht eingeliefert wurden. Er war ein guter Freund und ein äu ßerst liebenswürdiger Mensch.
»Hat sich jemand verletzt?«, rief ich bestürzt.
Schon befürchtete ich die Nachricht von einer neuerlichen Tragödie. »Ist es schlimm?«
»Big Al Layton ist in der Nacht gestürzt und hat sich den Kopf an einem Pflasterstein aufgeschlagen.« Schwester Willoughby brachte ein verschmitztes Grinsen zuwege. »Er war sternhagelvoll, aber die Stiche beim Nähen haben ihn schlagartig ernüchtert. Ich könnte mir vorstellen, dass er morgen zur Essenszeit wieder im Heim sein wird. Soll ich jetzt Father Bright zu Ihnen bringen? In einer Minute wäre er da.«
Ich starrte zur Tür hinaus. Ich wusste, dass Julian sofort kommen und genau das Richtige sagen würde, aber auch wissen würde, wann Schweigen angebracht war, doch in diesem Augenblick wollte ich einfach mit niemandem sprechen.
»Nein, danke«, sagte ich. »Ich will jetzt nur heimfahren.«
Noch einmal sah ich mich im Zimmer um, vermochte aber nicht die geringste Spur von meiner Freundin zu entdecken. Es war, als wäre jede Erinnerung an Miss Beacham restlos getilgt worden.
Ich rettete mich aus Oxford und lenkte meinen kanariengelben Range Rover wieder nach Hause. Der düstere Märztag spiegelte meine Stimmung wider.
Unter tief hängenden Wolken erstreckten sich kahle Felder. Auf den skelettartigen Ästen blattloser Bäume drängten sich Krähenschwärme; ein nasskalter Ostwind fegte übers Land und brachte nicht einmal den blassesten Hoffnungsschimmer mit sich, der sein schroffes Gebaren gemildert hätte.
Alles, was ich sah, schien in das einförmige Grau der Trauer gehüllt.
Mechanisch bewältigte ich die Kurven und Kreisverkehre; ohne nach links oder rechts zu schauen, fuhr ich durch die mir vertrauten Städte.
Ich fühlte mich, als drückte mich eine riesige Hand nieder und machte mir das Atmen immer schwerer.
Von den Patienten auf meiner Besucherliste war bisher noch kein einziger gestorben, und keiner hatte mir so viel bedeutet wie Miss Beacham. Es fiel mir schwer zu glauben, dass sie wirklich tot war.
Als ich in Finch ankam, war ich versucht, bei Bill im Büro vorbeizuschauen und mich ihm in die Arme zu werfen, ließ den Gedanken aber gleich wieder fallen – der Trost, den ich mir davon versprach, stand in keinem Verhältnis zu dem Risiko, dabei beobachtet zu werden. Meine Nachbarn waren, um es höflich auszudrücken, überaus wachsam. Stapfte ich mit verdrießlicher Miene über den Dorfplatz, würde sich mit Sicherheit jemand dar über Gedanken machen – und zwar laut und im Beisein eines Dritten, der gerade zufällig vorbeikam
–, was mit mir nicht stimmte. Noch vor Sonnenuntergang wäre die Gerüchteküche am Brodeln, und ich würde von Leuten, die nur darauf brannten, mich zu bemitleiden, alles brühwarm erfahren: dass meine Scheidung von Bill bevorstand, welchen Skandal es in Bills Kanzlei gegeben hatte, dass die Zwillinge unter einer entsetzlichen Mandelentzündung litten oder es irgendeinen anderen Schicksalsschlag gegeben hatte, der nur in der blühenden Fantasie der auf Tratsch versessenen Dorfbewohner existierte. Um also zu vermeiden, dass ich derart malträtiert wurde, beschränkte ich mich darauf, einen sehnsüchtigen Blick auf die Glyzinie zu werfen, die sich um die Tür zu Bills Büro rankte, dann rumpelte ich über die Buckelbrücke weiter nach Hause.
Als ich an der Abzweigung zum Anscombe Manor vorbeikam, dem Herrenhaus aus dem vierzehnten Jahrhundert und Zuhause meiner besten Freundin, Emma Harris, überlegte ich kurz, ob ich ihr einen Besuch abstatten sollte, verzichtete dann aber darauf. Emma war Amerikanerin wie ich und hatte einen Engländer geheiratet, doch obwohl wir aus dem gleichen Land stammten, sprachen wir nicht immer
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