Tante Dimity und der verhaengnisvolle Brief
dieselbe Sprache. Während bei mir alles über Gefühle lief, hatte Emma einen erschreckenden Hang, sich auf die Logik zu verlassen.
Wenn ich ihr erzählt hätte, dass ich über den Tod einer unheilbar kranken Frau bestürzt war, hätte sie mich garantiert völlig verdutzt angestarrt und mir geduldig erklärt, dass der Tod bei unheilbar Kranken nichts Ungewöhnliches war. Sie wäre durchaus liebevoll gewesen, aber den Trost, den ich brauchte, hätte sie mir nicht spenden können.
Außerdem stand Emma kurz davor, endlich einen lange gehegten Traum zu verwirklichen. Am Samstag sollte die Eröffnungsfeier des Anscombe Riding Centre stattfinden, einer kleinen Reitschule, die Emma mit Hilfe ihres Freundes und Stallmeisters Kit Smith führen wollte. Emma und Kit hatten ihr ganzes Herzblut in dieses Projekt gesteckt, und ich wollte ihre Begeisterung nicht mit meiner düsteren Stimmung trüben.
Für mich stand ohnehin schon fest, mit wem ich sprechen wollte, und ich wusste auch genau, wo ich diese Person finden würde. Auf der Kiesauffahrt vor dem Cottage angekommen, stellte ich den Motor ab, blieb aber noch einen Moment im Range Rover sitzen. Die Hände locker aufs Lenkrad gelegt, ließ ich den Blick langsam von den goldenen Steinmauern des Cottage hinauf zu seinem von Flechten überwachsenen Schieferdach wandern.
Meine Gedanken weilten unterdessen bei der unbeschreiblichen Engländerin, die vor mir in diesem Haus gelebt hatte und es in einem gewissen Sinne auch jetzt noch bewohnte.
Dimity Westwood war die engste Freundin meiner verstorbenen Mutter gewesen. Die zwei hatten sich im Zweiten Weltkrieg in London kennengelernt, wo sie für ihr jeweiliges Land dienten, und hatten ihre Freundschaft bis lange nach Kriegsende und der Rückkehr meiner Mutter nach Amerika am Leben erhalten, indem sie einander Hunderte von Briefen schrieben.
Für meine Mutter wurden diese Briefe zu einer Zuflucht, einem privaten Bereich, in den sie sich retten konnte, wenn ihr die banalen Ärgernisse des Alltags über den Kopf wuchsen. Zeit ihres Lebens blieb diese Zuflucht das streng gehütete Geheimnis meiner Mutter. Auch mir erzählte sie nie davon, nur indirekt stellte sie mir ihre liebste Freundin als Tante Dimity, die furchterregende Heldin meiner Gutenachtgeschichten, vor.
Die Wahrheit erfuhr ich erst Jahre später, als sowohl meine Mutter als auch Dimity verstorben waren und Dimity Westwood mir das honigfarbene Cottage hinterließ, in dem sie aufgewachsen war, und mit ihm die wertvolle Korrespondenz mit meiner Mutter, ein beträchtliches Vermögen und ein sonderbares, in blaues Leder gebundenes Notizbuch.
Über dieses Notizbuch nun lernte ich Dimity Westwood kennen – nicht aufgrund von Dingen, die sie hineingeschrieben hatte, sondern weil sie es auch nach ihrem Tod weiterführte. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie sie das bewerkstelligte, aber ich glaube zu wissen, warum sie den Kontakt mit den Lebenden aufrechterhielt.
Die Liebe, die sie mit meiner Mutter verband, bestand auch zwischen ihr und mir. Die strenge Tante Dimity ließ sich nicht gefallen, dass irgendetwas, und schon gar nicht etwas so Windiges wie der Tod, dieses Band durchtrennte. Wenn jemand die Kompetenz hatte, mir in Trauerangelegenheiten einen Rat zu erteilen, sagte ich mir, dann Tante Dimity.
Der feuchte Wind zerrte an meinem Haar, als ich aus dem Rover stieg und bedrückt über den gefliesten Weg zum Haus ging. Ich schlug den Kragen meiner Wolljacke hoch, aber dann hatte ich auch schon die Tür erreicht. Ich öffnete sie und blieb lauschend auf der Schwelle stehen. Will und Rob waren bei ihrem Kindermädchen – der wunderbaren Annelise, die bei uns im Haus lebte –, und wenn mich meine Ohren nicht täuschten, waren sie gerade alle dabei, unter viel Gelächter eine Kartoffelsuppe mit Lauch zuzubereiten.
Da ich ihnen mit meinem langen Gesicht nicht die Freude verderben wollte, zog ich lautlos die Haustür zu, hängte meine Umhängetasche an den Kleiderhaken und huschte auf Zehenspitzen über den Flur ins Büro, wo ich die Tür leise hinter mir schloss. Nachdem ich die Lampen auf dem Kaminsims angeknipst hatte, deponierte ich zunächst die Pferdebilder und die Biografie auf dem alten Eichenschreibtisch vor dem mit Efeu zugewachsenen Fenster. Dann kniete ich mich vor den Kamin, in dem bereits Holzscheite aufeinandergeschichtet lagen und nur noch angezündet werden mussten.
Die Kälte war mir vom Krankenhaus bis nach Hause gefolgt, und ich hoffte, das Feuer
Weitere Kostenlose Bücher