Tante Dimity und der verhaengnisvolle Brief
ihren Sohn vergötterte und ihn in die richtigen Kreise eingeführt hat. Nach Vernachlässigung klingt das eigentlich nicht.«
»Wahrscheinlich hat sie bloß gewartet, bis er alt genug war, um vorgezeigt zu werden«, grummelte ich. »Und dann hat sie ihn wie eine Trophäe zu ihren Partys geschleppt.«
»Und dein Beweis?«
»Das sagt mir einfach mein Bauchgefühl. Es ist doch nicht normal, wenn ein Kind bis auf ein paar Weihnachten nie daheim ist, egal welcher Schicht man angehört. Aber lass uns weitermachen.«
»Nach sechzehn Jahren als Gebietsleiter für die Midlands im Unternehmen seines Schwiegervaters wird Kenneth erneut befördert«, fuhr Gabriel fort.
»Diesmal muss er in den Norden nach Newcastle ziehen, wo er unseres Wissens immer noch lebt.
Finis.«
Er legte seine Aufzeichnungen weg und begann, mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln. Der Lärm weckte Stanley, der nun von meinem Schoß sprang und sich in den Flur trollte. Bestimmt hatte er vor, sein Nickerchen auf Miss Beachams betagter Chaiselongue fortzusetzen. Ich stand meinerseits auf, streckte die Beine und zog den Vorhang vor dem nächsten Panoramafenster zurück, um kurz in die triste, graue Welt hinauszuspähen.
»Wie konnten Kenneth und Dorothy das alles unternehmen, ohne in den Zeitungen erwähnt zu werden?«, überlegte ich laut, den Blick weiter auf die Straße gerichtet. »Frauen, die Wohltätigkeitsbälle veranstalten, wollen Öffentlichkeit, und keine würde darauf verzichten, den Namen ihres Mannes mit einzuflechten, ohne den sie …« – ich machte eine wegwerfende Bewegung – »… und so weiter und so fort.«
»Und ich wüsste gern, warum Kenneth nicht nach London versetzt wurde«, brummte Gabriel.
»Dort dürfte schließlich die Firmenzentrale sein.
Das muss man sich mal vorstellen: Kenneth legt sich ins Zeug, damit er die Tochter des Chefs heiraten kann, rackert sich dann sechzehn Jahre lang in der Zweigstelle Midlands ab, und was hat er davon? Er wird in die tiefste Provinz nach Newcastle versetzt. Das riecht eher nach Bestrafung als nach Beförderung.«
»Am wichtigsten ist für uns aber etwas anderes«, erklärte ich. »Warum haben sie Miss Beacham ausgeschlossen? Mrs Pollard mag zwar blau gewesen sein, aber sie hat es geschafft, mich davon zu überzeugen, dass weder Kenneth noch Dorothy sich jemals dazu bekannt haben, dass er eine Schwester hatte.« Ich ließ den Vorhang los und wirbelte zu Gabriel herum. »Warum haben sie so getan, als würde sie nicht existieren? Es ist ja nicht so, als ob sie verrückt, eine Pennerin oder eine überspannte alte Tante gewesen wäre! Sie war eine allseits geachtete Dame mit einem Herz aus Gold und hatte haufenweise eigenes Geld. Warum haben sie sie so schlecht behandelt?«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, das rauszufinden.« Gabriel faltete die Hände über unseren hingekritzelten Notizen. »Wir müssen sie fragen, Lori.
Wir müssen nach Newcastle fahren.«
»Und was tun wir dort?«, fragte ich gereizt.
»Uns mit einem Megafon an einer Straßenecke postieren und verlangen, dass Kenneth sich blicken lassen soll? Wir wissen immer noch nicht den Namen der Firma, und wenn ich an seine früheren Gewohnheiten denke, werden wir ihn auch im Telefonbuch von Newcastle nicht finden. Vielleicht haben wir in der Crestmore Crescent zu früh aufgegeben. Wir sollten noch mal hinfahren und mit ein paar Leuten mehr …« Ich verstummte jäh, als mein Handy klingelte.
»Ich schau mal nach, was Stanley macht«, sagte Gabriel und ging hinaus, um mich beim Telefonieren nicht zu stören.
Ich fummelte das Handy aus der Umhängetasche und warf einen Blick auf das Display. Die Nummer erkannte ich nicht, sehr wohl aber die Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Ms Shepherd?« Mr Moss’ gepflegte Sprechweise kam klar und deutlich durch den Äther. »Darf ich annehmen, dass es Ihnen gut geht?«
»Bestens, danke«, antwortete ich und fügte lautlos hinzu: du zugeknöpfter Mistkerl .
»Schön«, sagte Mr Moss. »Ich möchte Sie nicht bedrängen, Ms Shepherd, aber die Auktion von Miss Beachams persönlichen Gegenständen ist für Donnerstag anberaumt. Haben Sie sich bereits entschieden? Haben Sie schon die Stücke ausgesucht, die Sie an sich nehmen möchten?«
»Äh, nein.« Ich schlug mir erschrocken gegen die Stirn. In meinem Eifer, Kenneth Beacham zu finden, hatte ich die Versteigerung ganz vergessen.
»Da sind noch die … äh … Bücher«, improvisierte ich, weil mein Blick gerade auf die
Weitere Kostenlose Bücher