Tante Dimity und der verhaengnisvolle Brief
in die Küche zeigte nun doch langsam seine Wirkung. Sie nuschelte zunehmend, und ihre Sätze zerfielen zu Fragmenten. Ich beschloss, die Frage zu stellen, auf die es uns ankam, bevor unsere Informantin den Faden völlig verlor.
»Mrs Pollard, wissen Sie, wo Kenneth jetzt ist?«
»Jetzt?« Mrs Pollard stierte mich mit leeren Augen an. »Wo er jetzt ist, haben Sie gefragt? Weg.
Sie sind beide weg, Kenneth und Dorothy.« Ihr Blick wurde glasig, und sie drohte einzunicken.
Dann gab sie sich einen Ruck und versuchte sich zu konzentrieren. »Ich hab mich natürlich für sie gefreut. War ja eine Riesenchance. Da konnte Kenneth schlecht nein sagen. Aber irgendwie kam das so plötzlich. Nach sechzehn Jahren in der Crescent sind sie verschwunden …« Sie schnippte mit den juwelengeschmückten Fingern. »Einfach so. Sechzehn Jahre mit Bridge-Partys, Gartenpartys, Kaffeekränzchen … weg. Zack. Am Anfang sind wir in Verbindung geblieben, aber das hat nicht gehalten.
So was hält ja nie … Dorothy hat den ganzen verrückten Trubel mitgenommen, als sie nach Newcastle gezogen sind. Und seither ist es in der Crescent so furchtbar öde.«
Zu meinem Entsetzen fing Mrs Pollard an zu heulen. Schwarze Bächlein rannen von den mit Eyeliner umrahmten Augen über die makellos gepuderten Wangen, und ihr lautloses Schluchzen ließ die stattlichen Schultern beben.
Ich legte ihr eine Hand auf den Arm. »Mrs Pollard, soll ich jemanden für Sie anrufen?«
»Was?« Sie blickte mich verschwommen an, schniefte und brachte ein wässriges Lächeln zuwege. »Nein, nein, meine Liebe, ich behellige Mr Pollard nie im Büro. Das wär nicht in Ordnung. Und die Kinder haben was Besseres zu tun, als ihrer Mutter zuzuhören. Mein Sohn ist Makler. Hab ich Ihnen schon erzählt, dass mein Sohn Makler ist?«
Sie fasste sich an die Schläfe. »Mir fehlt nichts, das können Sie mir ruhig glauben. Ich bin bloß ein bisschen müde. Kenneths Schwester ist tot, sagen Sie? So traurig. Ihnen macht’s doch nichts aus, wenn ich Sie nicht zur Tür bringe?«
»Sind Sie sicher, dass Ihnen nichts fehlt?«, fragte ich.
»Unbedingt. Ein Nickerchen, und ich bin wieder munter wie ein Fisch im Wasser.« Noch während sie das sagte, fiel ihre Hand kraftlos in den Schoß, ihre Schultern sackten nach unten, und ihr Kopf kippte nach vorne. Einen Augenblick später begann sie zu schnarchen.
Gabriel und ich nahmen unsere Jacken von der Flurgarderobe und verließen das Haus. Schweigend stiegen wir in den Rover, fuhren aber nicht sogleich los, sondern starrten durch die Regenschlieren auf der Windschutzscheibe hinaus.
»Ich dachte immer, die Männer im St.- Benedict’s-Asyl wären arm dran«, murmelte ich.
»Aber im Vergleich zu Mrs Pollard haben sie es noch gut getroffen. Zumindest haben sie ihre Gemeinschaft. Sie hat aber offenbar niemanden. Sitzt den ganzen Tag lang in ihrem makellosen Haus und hat nur einen Mann, der sich nicht um sie schert, und Kinder, die keine Zeit für sie haben …«
»Und eine liebe Freundin, die sie verlassen hat.«
Gabriel schnippte mit den Fingern. »Einfach so.
Alkoholikern ist jede Ausrede fürs Trinken recht, Lori.«
Ich sah ihm in die Augen. »Bist du da nicht ein bisschen brutal?«
»Das ist die brutale Wahrheit. Mrs Pollard hätte die Lücke füllen können, die Dorothy hinterlassen hat. Sie hätte Freunde in ihr makelloses Zuhause einladen können. Aber nein, die Anziehungskraft der Flasche war offenbar zu stark. Alkoholiker trinken, weil sie süchtig sind. Das müsstest du eigentlich wissen, Lori. Du hast schließlich genug Zeit im St. Benedict’s verbracht.«
»Natürlich weiß ich das«, verteidigte ich mich.
»Aber es bricht mir trotzdem das Herz.«
Gabriel drückte mir kurz die Schulter, dann ließ er den Motor an.
»Wohin fahren wir?«, fragte ich.
»Erst essen wir eine Kleinigkeit, dann fahren wir zu mir und ordnen alles, was wir heute erfahren haben.«
»Gabriel?« Ich zögerte. »Können wir nicht lieber in Miss Beachams Wohnung gehen? Nichts gegen dich, aber in diesem grünen Vinylsessel kriege ich echt Zustände.«
»Na ja, ich werde mir wegen diesem Sessel noch was einfallen lassen müssen«, meinte Gabriel nachdenklich.
»Gib ihn zum Sperrmüll. Er ist zu hässlich, um ihn den Bedürftigen zu schenken.«
Gabriel sah mich scheel an, um plötzlich in schallendes Gelächter auszubrechen. »Du bist wirklich die geborene Diplomatin«, prustete er.
Er lachte noch immer, als er den Rover aus dem Villenvorort
Weitere Kostenlose Bücher