Tante Dimity und die unheilvolle Insel
hierher. Er wird bei Ihnen sein, sobald der Wind sich gelegt hat. Wir unterhalten uns später wieder.«
»Nein«, protestierte ich und gab mir alle Mü he, wach zu bleiben. »Abaddon auf der Klippe
… Was ist passiert?«
»Er wurde vom Blitz getroffen. Oder vielleicht war es der Zorn Gottes. Jedenfalls ist er tot. Sie werden sich seinetwegen keine Sorgen mehr machen müssen.« Ein leiser Seufzer entfuhr Damian, während er mir die Hand streichelte. »Eigentlich sollte es genau umgekehrt sein, wissen Sie. Ich müsste dort liegen, wo Sie jetzt sind, und Sie sollten hier stehen.«
»Beim nächsten Mal krieg ich das hin«, versprach ich, und dann ließ ich es zu, dass mich die Wogen der Schläfrigkeit davontrugen, die schon die ganze Zeit hartnäckig an mir hochgeschwappt waren.
In den nächsten zwölf Stunden dämmerte und schlief ich vor mich hin. Die Besuchszeiten wurden in Dr. Tighes Praxis offenbar recht flexibel gehandhabt, denn wann immer ich aufwachte, schwebte ein anderes Gesicht über mir. Percy, Peter, Cassie, Kate, Elliot, Pastor Ferguson – sie alle machten irgendwann ihre Aufwartung.
Dr. Tighe, der für einen praktischen Arzt viel zu jung wirkte, kam in regelmäßigen Abständen zu mir, um Puls und Blutdruck zu messen, an meinem Verband herumzuhantieren und neue Infusionsbeutel anzubringen.
Rob und Will waren immer bei mir. Entweder hockten sie im Schneidersitz am Fuß meines Betts, oder sie spielten vor ihren Liegen mit ihren Robbenbabys oder den Rittern. Damian war bei allem ihr Begleiter, und Reginald hielt sich natürlich ebenfalls in ständiger Griffweite. Falls einer von ihnen oder mehrere das Zimmer zwischendurch verließen, bekam ich das nicht mit.
Als Bill eintraf, war ich bereits kräftig genug, um mich im Bett aufzusetzen. Da Worte die Intensität unserer Gefühle nicht annähernd auszudrücken vermochten, verbrachten er, die Jungs und ich die ersten Momente unseres Zusammenseins ausschließlich damit, uns in den Armen zu liegen. Mit den Umarmungen, Küssen und Liebkosungen ging es auch weiter, nachdem Rob und Will im Vertrauen auf die Pflegekünste ihres Vaters Damian erlaubt hatten, sie zur Burg zurückzubringen.
Als sie weg waren, machte Bill es sich am Fu ßende des Betts in Strumpfsocken bequem. Gegen ein Kissen gelehnt, streckte er die Beine parallel zu den meinen aus und ließ seinen Blick unentwegt über mein Gesicht oder die bandagierte Schulter schweifen, als debattierte er mit sich selbst, ob ich schon bereit war für das, was er mir zu sagen hatte.
»Bill«, erklärte ich, »wenn du mir irgendwas vorenthältst, dann sterbe ich noch vor Neugier.
Also, raus mit der Sprache, und zwar sofort.«
»Geduld war noch nie deine Stärke.« Bill lä chelte, doch seine Augen wirkten überschattet.
»Es ist eine hässliche Geschichte, Lori.«
»Eine leichte Komödie habe ich auch nicht erwartet«, erwiderte ich sanft. »Schieß los. Ich verspreche dir, dass ich nicht in Ohnmacht falle.«
»Na gut …« Er hob warnend den Zeigefinger.
»Aber wenn ich auch nur die leichteste fiebrige Rötung bemerke, behalte ich mir das Recht vor, die Geschichte zu einem späteren Zeitpunkt fortzusetzen.«
»Einverstanden«, sagte ich umgehend und ließ zum Zeichen meiner Bereitschaft, ruhig zu bleiben, den Kopf aufs Kissen sinken.
»Unsere Verstrickung in diese Geschichte nahm vor neun Monaten ihren Anfang«, sagte Bill. »Sir Rodney Spofford bat mich damals, sein Testament aufzusetzen. Ich hatte nie mit ihm zu tun gehabt, aber ein langjähriger Mandant von mir hatte mich ihm empfohlen. Tja, sein Testament stellte sich als ganz einfache Angelegenheit heraus. Sir Rodney war Witwer. Folglich sollte bei seinem Tod der größte Teil seines Vermögens an sein einziges Kind, Harold Spofford, gehen.
Ich brauchte weniger als eine Woche, um das alles zu regeln.«
Ich legte verwirrt die Stirn in Falten. »Warum ist er dann überhaupt zu dir gekommen? Du bist auf verfahrene und hochkomplizierte Erbfälle spezialisiert. Warum wollte er dir viel Geld für etwas zahlen, das jeder andere Anwalt genauso gut hätte erledigen können?«
»Genau das habe ich Sir Rodney auch gefragt.
Er hat gemeint, dass meine Kanzlei unter seinen Freunden ein gewisses Ansehen genösse. Aber damit log er mir ins Gesicht. Jetzt ist mir klar, dass er nur deshalb zu mir gekommen ist, weil ich nichts über seine Familie wusste. Als er mir sagte, dass Harold sein einziges Kind sei, hatte ich keinen Anlass, ihm nicht zu glauben.
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