Tante Dimity und die unheilvolle Insel
Dass Sir Rodney noch ein zweites Kind hatte, den älteren Sohn Alfred, habe ich erst vor zwei Tagen erfahren.«
Ich schüttelte verwundert den Kopf. »Wie merkwürdig. Warum hat Sir Rodney gelogen?«
»Weil Alfred vor zwanzig Jahren im zarten Alter von vierzehn in eine private psychiatrische Klinik für gemeingefährliche Geisteskranke gesperrt wurde.«
Meine Augenbrauen schossen nach oben.
»Wieso? Was hatte er getan?«
»Eine ganze Reihe von durch eine Psychose bedingten Straftaten«, antwortete Bill ausweichend. »Das Kindermädchen der Familie hatte eine religiöse Manie, die sie an den kleinen Alfred weitergab. Und der war von Haus aus nicht gerade stabil. Er neigte zu Gewaltausbrüchen.
Was immer er wollte, nahm er sich einfach. Und seit frühester Kindheit betrachtete er es als seine Pflicht, Strafen auszuteilen … egal ob an kleine Tiere oder Kinder, denn für ihn hatten sie alle gesündigt.«
Ich hatte ein flaues Gefühl in der Magengrube, wahrte aber einen neutralen Gesichtsausdruck.
Bill sollte jetzt bloß nicht anfangen, sich um meine Temperatur Gedanken zu machen.
»Es erübrigt sich zu sagen, dass die Spoffords Alfred nicht in die Schule schicken konnten«, fuhr Bill fort. »Sie behielten ihn auf ihrem Landsitz unter strenger Aufsicht, bis er schließlich das Sommerhaus anzündete, als seine Mutter gerade darin schlief. Sie verbrannte bei lebendigem Leibe.«
»Er hat seine eigene Mutter ermordet?«, brachte ich matt hervor.
»Man konnte ihm nichts nachweisen«, brummte Bill. »Doch Sir Rodney hatte in der Asche einen halb verkohlten Spruch aus der Bibel gefunden. Er zog es vor, das Beweismittel der Polizei vorzuenthalten und Alfred im Brook House zu verwahren – eine private Anstalt mit einem Sicherheitstrakt. Danach tilgte er systematisch Alfreds Namen aus sämtlichen Dokumenten der Familie. Harold, sein jüngerer Sohn, wurde sein einziger Sohn und Alleinerbe.«
»Wie alt war Harold, als Alfred verschwand?«, fragte ich.
»Zwölf. Ein Alter, in dem man leicht zu beeinflussen ist. Er hat seinen älteren Bruder nie vergessen. Als Harold über zwanzig war, begann er, Alfred heimlich zu besuchen. Er ermutigte ihn, an der Beschäftigungstherapie teilzunehmen. So bekam Alfred eine Ausbildung als Elektroniker und Computertechniker und zeichnete sich durch vorbildliche Führung aus. Jahrelang kam es zu keinen psychotischen Anfällen mehr. Harold gelangte daher zu der Auffassung, dass sein Bruder geheilt war.«
»Erzählte er seinem Vater von Alfreds Fortschritten?«, wollte ich wissen.
Bill schüttelte den Kopf. »Sir Rodney weigerte sich, Alfreds Existenz zur Kenntnis zu nehmen.
Für ihn war Alfred im selben Feuer umgekommen, das Lady Spofford das Leben gekostet hatte.«
»Kurzum, Alfred wurde Harolds kleines Geheimnis«, fasste ich zusammen.
»Alfred wurde Harolds Obsession«, verbesserte mich Bill. »Er fand, dass es eine Schande war, wie man seinen Bruder behandelt hatte, und lehnte das Testament, das ich aufgesetzt hatte, vehement ab.«
»Jede Wette, dass auch Alfred nicht unbedingt davon erbaut war.«
»Er war außer sich vor Empörung. Er war der älteste Sohn. Er war der rechtmäßige Erbe. Niemand hatte das Recht, ihn zu enterben. Und in seiner verzerrten Sichtweise war ich das Instrument, das ihm sein Vermögen geraubt hatte. Er sah es als seine Pflicht an, mich zu bestrafen. Aus Alfred wurde Abaddon.«
»Der König des ewigen Abgrunds«, murmelte ich. »Hat Alfred dir diese widerwärtige E-Mail von Brook House aus geschickt?«
»Das war nicht mehr nötig«, knurrte Bill. »Er ist vor drei Monaten aus der Anstalt ausgebrochen. Sein Bruder hat ihn nicht nur dazu angestachelt, sondern auch kräftig unterstützt. Sir Rodney beauftragte dann einen Privatdetektiv, ihn aufzuspüren, aber dank Harold war ihm Alfred immer einen Schritt voraus. Harold versorgte Alfred mit Geld, versteckte ihn, mietete für ihn ein Auto und kaufte ihm auch die Laptops, mit denen Alfred mir dann die Droh-Mails geschickt hat. Und er war es auch, der Alfred eine Pistole zusteckte, die er aus Sir Rodneys Sammlung entwendet hatte.«
»Ich hatte schon darüber gerätselt, wo er die Pistole herhatte«, sagte ich. »Wo war eigentlich Sir Rodney die ganze Zeit?«
»Er kümmerte sich um seine Geschäfte«, erwiderte Bill lakonisch. »Dass Harold mit Alfred Kontakt hatte, erfuhr er erst, als er nach Alfreds Flucht mit einem Pfleger sprach. Aber da hatte er noch keinen Anlass zu dem Verdacht, dass Alfred mich
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