Tante Dimity und die unheilvolle Insel
Ein leichter Schatten legte sich über Damians Gesicht.
»Ein Licht. Ich hab ein Licht auf Cieran’s Chapel bemerkt. Es ist so schnell gekommen und verschwunden, dass ich mir nicht sicher war, ob ich es wirklich gesehen hatte. Aber jetzt bin ich mir ganz sicher.« In Erwartung einer Standpauke zog ich schon mal den Kopf ein. Als nichts dergleichen kam, fügte ich kleinlaut hinzu: »Es tut mir leid, Damian. Ich hätte Sie nicht anlügen dürfen. Wenn Sie mich anschreien wollen, tun Sie sich keinen Zwang an.«
Zu meiner Verblüffung nahm Damian eine etwas entspanntere Haltung an und schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich werde Sie nicht anschreien, Lori. Es wundert mich auch überhaupt nicht, dass Sie glaubten, wenn Sie einen Chor von Mönchen gesehen hätten, wäre ich auch nicht überrascht. Sie stehen im Moment unter einer gewaltigen emotionalen Belastung. Da musste Ihnen Sir Percys Erzählung ja unter die Haut gehen. Ich hielt es für keine gute Idee, dass er sie gestern unbedingt zum Besten geben wollte, und Ihre Reaktion hat das nur bestätigt.«
»Aber … ich habe ein Licht gesehen!«, protestierte ich.
Weiter kam ich nicht, denn ausgerechnet jetzt schrien die Zwillinge mit allem, was ihre Lungen hergaben: » Mummy !«
Damian und ich rannten sofort los. Als wir einen massiven Felsblock umrundet hatten, wären wir fast gegen Andrew, Rob und Will geprallt.
Sie standen direkt an seinem Fuß und starrten nach oben. Ich folgte ihrem Blick, und plötzlich packte mich das kalte Grauen.
In eine Spalte knapp unter der Spitze und weit über der Flutlinie war ein Totenschädel geklemmt und bedachte uns mit dem festgefrorenen, zeitlosen Grinsen aller Skelette. Einen entsetzlichen Augenblick lang glaubte ich sogar, ein Kichern aus seinem fleischlosen Rachen zu hö ren, doch es war bloß eine vorbeifliegende Mö we, die ihr raues Kreischen ausgestoßen hatte.
Ich holte hastig Luft und zwang mich zu einem Lächeln. »Himmel«, ächzte ich mit zittriger Stimme. »Das stellt den Hummertopf, den Daddy in Skegness gefunden hat, garantiert in den Schatten.«
Falls ich befürchtet hatte, meine Söhne könnten fürs Leben traumatisiert sein, hatte ich ihre Sensibilität überschätzt. Wie sich schnell zeigte, waren die kleinen Scheusale von ihrer Entdeckung fasziniert.
»Andrew will uns nicht erlauben, dass wir ihn runterholen«, maulte Will.
»Er sagt, er ist schmutzig«, beklagte sich Rob.
»Aber wir können ihn doch im Meer waschen!«
»Und wenn er sauber ist, nehmen wir ihn mit heim«, erklärte Will.
»Nein, das tun wir mit Sicherheit nicht«, begann ich mit fester Stimme, um danach eilig einen Grund für das Verbot zu improvisieren. »Er
… gehört uns nicht. Er ist Sir Percys Eigentum.«
»Sir Percy wird uns bestimmt erlauben, ihn zu behalten!«, entgegnete Rob voller Zuversicht und hatte wahrscheinlich recht damit.
»Tut mir leid, Jungs«, schaltete sich Damian ein, »aber ich kann euch nicht erlauben, den Schädel mitzunehmen. Andrew, würdest du ihn bitte runterholen?«
Andrew schüttete die gesammelten Muscheln aus dem Plastikeimer, hängte sich den Henkel über den Unterarm und begann, den Felsen zu erklimmen. Ich warf unterdessen einen Blick auf die übrigen Klippen und zog dann Damian beiseite.
»Das war er «, flüsterte ich eindringlich, sobald wir außer Hörweite waren.
»Wer?«, fragte Damian.
» Abaddon .« Dimitys Warnung schoss mir in den Sinn, und in meiner Panik redete ich immer schneller. »Er ist uns gestern nach Erinskil gefolgt und hat gestern Nacht auf Cieran’s Chapel kampiert. Und heute Morgen hat er dann den Schädel zurückgelassen. Das ist die … abartige Visitenkarte eines Wahnsinnigen!«
Damian blickte kurz zu Rob und Will hinüber, ehe er mich noch etwas mehr beiseite zog. »Lori«, sagte er mit bemühter Geduld, als müsste er einem verängstigten Kleinkind gut zureden. »Ich möchte, dass Sie sich beruhigen.«
» Beruhigen? «, blaffte ich. » Sie selbst haben doch gesagt, dass er darauf aus sein könnte, mir am Strand die Kehle aufzuschlitzen!«
»Aber er kann unmöglich gewusst haben, dass Sie heute Vormittag am Strand sein werden. Er kann unmöglich damit gerechnet haben, dass das Wetter heute so schön wird.«
»Jetzt hören Sie mal«, begann ich verärgert, doch Damian schnitt mir das Wort ab.
»Einen Augenblick, Lori. Lassen Sie uns erst ein paar Überlegungen anstellen, einverstanden?
Wie sollte Ihnen Abaddon denn nach Erinskil gefolgt sein? Mit der Fähre
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