Tante Dimity und die unheilvolle Insel
kann er nicht gekommen sein – die wird erst wieder in vier Tagen erwartet. Wenn er ein Boot genommen hätte und im Hafen vor Anker gegangen wäre, hätte ich davon gehört – der Hafenmeister meldet mir alles. Sir Percys private Bucht ist die einzige andere halbwegs vernünftige Anlegestelle auf der Insel und wird seit Mrs Gammidges Eintreffen elektronisch überwacht. Kein Boot ist gelandet, und niemand hat den Strand mit Totenschädeln geschändet.«
»Es gibt noch andere Strände«, erwiderte ich.
»Ich habe sie beim Anflug gesehen.«
»Strände, ja. Anlegestellen, nein. Es ist schon nicht leicht, mit einem Boot in Sir Percys Bucht zu landen, Lori. Und an den anderen Stränden ist es zehnmal so schwer. Dort bilden alle möglichen Hindernisse unter Wasser eine unüberwindbare Barriere: Felsen, Riffe, Strömungen. Ich wünschte mir, Abaddon würde sein Glück an einem davon versuchen. Er würde ertrinken, bevor er überhaupt in die Nähe des Strands käme, und wir wären ihn los.«
Herausfordernd verschränkte ich die Arme vor der Brust. »Dann sind diesem Schädel hier wohl Flügel gewachsen, und er ist hergeflogen.«
»Die Flut schwemmt alle möglichen verrückten Gegenstände an«, entgegnete Damian in einem Ton, der mich in seiner Besonnenheit schier zur Weißglut reizte. »Und bei Stürmen verschlägt es sie an die unmöglichsten Stellen.«
Ich prallte entsetzt zurück. »Ist etwa damit zu rechnen, dass meine Söhne noch mehr Körperteile finden?«
»Solche Funde sind gar nicht so ungewöhnlich, wie Sie vielleicht glauben«, klärte mich Damian lächelnd auf. »Auf dem Friedhof von Stoneywell ist eine kleine Sektion für die Beerdigung von Knochen reserviert, die das Meer zurückgegeben hat.«
»Oh!«, entfuhr es mir. Für einen Moment hatte er mir den Wind aus den Segeln genommen.
»Ist das der Grund, warum Sie Andrew gebeten haben, den Schädel zu bergen? Haben Sie die Absicht, ihn zu beerdigen?«
»Vorher schicke ich ihn dem forensischen Labor in Glasgow. Wenn sie dort keine Spuren eines Verbrechens feststellen, wird er wahrscheinlich auf dem Friedhof landen.« Damian legte mir besorgt die Hand auf die Schulter. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Nein«, antwortete ich schroff und entzog mich mit einem heftigen Ruck der Berührung.
»Jemand sollte das wirklich untersuchen. Abaddon könnte trotz allem dort draußen sein und uns ausspionieren.«
»Ich bezweifle, dass Abaddon ein derart auffälliges Wahrzeichen als Versteck auswählen würde.« Damian sah mir eindringlich in die Augen. Er schien zu überlegen und eine Entscheidung zu treffen. »Aber wir werden der Sache selbstverständlich nachgehen. Wenn es Sie beruhigt, können wir jetzt gleich zur Cieran’s Chapel rausfahren.«
»Wie?«
Er zog sein Handy aus der Tasche. »Sie brauchen nur den Wunsch zu äußern, und in spätestens einer halben Stunde holt uns ein Boot ab.«
Ich blickte über die Schulter auf die aufgewühlte Wasserfläche zwischen mir und dem von Wellen umtosten Felsen. Dann wanderten meine Augen weiter zu meinen geliebten Kindern, die sich tief über Andrews Eimer beugten und eine erfrischend blutrünstige Diskussion über die möglichen Ursprünge des Schädels führten. War ich ein ängstliches Mäuslein unter lauter kühnen Löwen?
»Rufen Sie an«, entschied ich.
9
ICH VERMIED ES tunlichst, die geplante Bootsfahrt vor Will und Rob zu erwähnen. Sie brannten schon darauf, Percy den Schädel zu zeigen, und hatten darum überhaupt nichts dagegen, dass ich sie in die Burg zurückschickte. Hätten sie gewusst, was sie verpassten, wären sie nicht so still abgezogen.
Selbst konnte ich es kaum erwarten, zu dem Felsen hinauszufahren. Ich war nicht gerade erpicht darauf, Abaddons Lager zu entdecken – im Gegenteil, ich wollte diesen wahnsinnigen Stalker möglichst weit entfernt von Erinskil wissen –, aber ich hoffte sehr, irgendwas zu finden. Wenn Damian mich weiter wie einen hysterischen Blaustrumpf behandelte, konnte ich für nichts mehr garantieren. Ich musste ihm beweisen, dass das matte goldene Schimmern keineswegs ein Gespinst meiner überreizten Fantasie war.
Meine Entschlossenheit erlitt allerdings einen Dämpfer, als das Boot, das Damian angefordert hatte, hinter der Landspitze auftauchte. Ich hatte so etwas wie einen Fischkutter erwartet, aber gewiss nicht ein Schlauchboot mit Außenbordmotor, das von Welle zu Welle hüpfte. Ich zog den Reißverschluss meiner Regenjacke bis zum Kinn zu und warf einen
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