Tante Inge haut ab
hier?«
Charlotte schnappte nach Luft. »Ich wohne hier. Dasselbe sollte ich Sie fragen. Und wo sind überhaupt mein Mann und mein Schwager?«
»Sie sind geschäftlich unterwegs.« Mit einer Haarklammer zwischen den Zähnen ordnete Renate ihr wildes Haar und steckte es lässig hoch. »Zusammen mit Kalli. Sie wollten am späten Nachmittag wieder hier sein, pünktlich zum Grillen.«
»Geschäfte? Grillen?« Verständnislos schüttelte Charlotte den Kopf. »Und wo ist meine Schwägerin ?«
»Inge?« Renates Stimme ging um eine Oktave in die Höhe. »Das wüssten wir alle auch zu gerne. Aber die Sachlage ist ja mittlerweile klar. Sie hat Walter verlassen. Und sie schert sich überhaupt nicht um ihre Familie und ihre Freundinnen, macht einfach, was sie will. Ich habe selten eine solche Egozentrikerin erlebt. Walter ist völlig fertig, regelrecht gebrochen. Es wird lange dauern, bis er sich wieder auf Gefühle einlassen kann.«
Charlotte starrte sie stumm und mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Und Sie sind auch nicht viel besser«, redete sich Renate jetzt in Rage, »während sich Heinz und Kalli bemühen, Ihrem Schwager in dieser schweren Zeit beizustehen, setzen Sie sich einfach in den Zug und verlustieren sich in Hamburg. Die Männer saßen hier ohne Essen und Ansprache. Sie haben mich angefleht, ihnen zu helfen. Sie kommen doch alleine überhaupt nicht zurecht. Ich bin erst mal einkaufen gewesen, habe hier Ordnung gemacht und ... wer ist denn das?«
Die blonde Frau, die plötzlich vor ihnen stand, sah aus wie Inge, nur zwanzig Jahre jünger. Sie warf einen erstaunten Blick auf Renate und sagte dann zu Charlotte: »Deine Küche sieht aus wie ein Schlachtfeld. Dass mein Vater nicht der Erfinder der Hausarbeit ist, wusste ich, aber so etwas habe ich noch nie gesehen. Guten Tag, ich bin Pia Müller.«
Sie streckte Renate die Hand entgegen, die aber ignoriert wurde. Stattdessen rappelte sich Renate umständlich auf und glättete ihren Rock.
»Tag«, antwortete sie knapp, »sind Sie Walters Tochter?«
»Ja, ich habe aber nicht verstanden, wer Sie sind.«
»Renate von Graf.« Sie warf den Kopf in den Nacken. »Ich bin eine enge Freundin Ihrer ... Eltern.«
»Aha«, stellte Pia unbeeindruckt fest. »Charlotte, sollen wir mal deine Küche in Ordnung bringen? Und uns dann auf die Suche nach dem Rest der Familie machen?«
Charlotte stand immer noch wie angewurzelt vor Renates Liegestuhl. »Ich glaube, ich werde gleich ...«, zischte sie, doch der Klingelton ihres Handys hielt sie davon ab. Ohne den Blick von Renate zu wenden, nahm sie das Gespräch an.
»Ach, Christine ... Ich bin wieder zu Hause und stehe gerade im Garten. Vor Renate, sie hat sich hier gesonnt ... Wo steckt ihr?... Und weißt du, wo Papa, Onkel Walter und Kalli sind? ...Was???«
Die letzte Frage kam so laut, dass Pia und Renate zusammenzuckten. Die Besorgnis in Charlottes Gesicht ließ aber gleich nach, so dass sich Pia und Renate wieder entspannten.
»Dann kommen sie ja bald ... Pia ist auch hier ... ja genau, sie weiß es, wir sind zusammen mit dem Zug hergefahren ... Gut, dann sehen wir uns gleich, bis dann.« Sie legte das Handy auf den Gartentisch. »Vielleicht muss man auch nicht alles verstehen. Christine, Johann und Inge sind gerade auf dem Autozug. Sie waren in Flensburg bei einem Anwalt. Und Heinz, Walter und Kalli sind in Westerland bei der Polizei, weil Walter jemanden niedergeschlagen hat. Dafür kommt er aber nicht in den Knast, sondern wird irgendwie gefeiert. Und gleich soll noch Anika mit einem Jörn erscheinen. Anika hat sich vor ein paar Tagen mit deiner Mutter betrunken, Pia. Wer Jörn ist, habe ich leider nicht begriffen, Christine redet ja auch immer so schnell. Ich gehe jetzt rein und mache mir eine heiße Schokolade.«
Langsam ging sie zum Haus. Bevor Pia ihr folgen konnte, hielt Renate sie am Handgelenk fest. Pia sah Renate freundlich an.
»Ja?«
»Weiß Ihr Vater, dass Sie hier sind?«
»Nein.« Pia schüttelte den Kopf. »Das habe ich ganz spontan entschieden, nachdem ich gestern Abend mit meiner Mutter telefoniert habe. Ich hatte ja keine Ahnung, was hier los ist. Ich war froh, dass ich beim Telefonieren saß. Aber jetzt will sie meinem Vater alles erzählen, deshalb wollte sie, dass ich dabei bin.«
Renate lächelte sie aufmunternd an. »Ach, wissen Sie, das kommt in den besten Familien vor. Ihr Vater trägt es übrigens mit Fassung, falls Sie das beruhigt. Wir haben schon das eine oder andere nette Gespräch
Weitere Kostenlose Bücher