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Tante Julia und der Kunstschreiber

Tante Julia und der Kunstschreiber

Titel: Tante Julia und der Kunstschreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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interessieren nicht alle Leute, die in einer Gegend wohnen, sondern nur die, die besonders herausragen, die dem Viertel seinen Geruch, seine Färbung geben. Wenn eine Figur Gynäkologe ist, muß sie dort leben, wo sie hingehört, und das gleiche gilt auch für einen Polizeiwachtmeister.« Er unterwarf mich einem ausschweifenden und amüsanten (für mich, denn er blieb todernst) Verhör über die menschliche Topographie der Stadt, und ich entdeckte, daß die Dinge, die ihn am meisten interessierten, sich auf die Extreme bezogen: Millionäre und Bettler, Weiße und Schwarze, Heilige und Kriminelle. Meinen Antworten entsprechend ergänzte er den Plan mit Initialen, veränderte sie oder strich sie mit schnellen Handbewegungen, ohne einen Augenblick zu zögern, so daß ich annehmen mußte, er habe dieses System der Katalogisierung schon vor langer Zeit erdacht und erprobt. Warum hatte er nur Miraflores, San Isidro, La Victoria und Callao markiert? »Weil sie zweifellos die Hauptschauplätze abgeben werden«, sagte er und ließ seine hervorstehenden Augen mit napoleonischer Selbstgefällig keit über die vier Distrikte wandern. »Ich bin ein Mann, der die Mittelmäßigkeit, das trübe Wasser, den dünnen Kaffe haßt. Ich liebe das Ja oder das Nein, männliche Männer und weibliche Frauen, die Nacht oder den Tag. In meinen Werken gibt es immer Aristokraten und Plebejer, Prostituierte und Madonnen. Der Mittelstand inspiriert weder mich noch mein Publikum.«
    »Sie haben große Ähnlichkeit mit den Romantikern«, entfuhr es mir unglücklicherweise.
    »Auf jeden Fall sind sie mir ähnlich.« Beleidigt fuhr er in seinem Stuhl hoch. »Ich habe niemals jemanden kopiert. Man kann gegen mich anführen, was man will, nur nicht diese Infamie. Im Gegenteil, man hat mich auf höchst gemeine Art und Weise bestohlen.«
    Ich wollte ihm erklären, daß die Bemerkung über die Ähnlichkeit mit den Romantikern nicht als Beleidigung gemeint war, sondern als Scherz, aber er hörte mir gar nicht zu, denn plötzlich war er außerordentlich zornig geworden, gestikulierte und schimpfte mit seiner groß artigen Stimme, als stünde er vor einem erwartungsvollen Publikum:
    »Ganz Argentinien ist von meinen Werken überschwemmt, die von den Schmierfinken in Buenos Aires geschändet worden sind. Sind Sie in Ihrem Leben schon einmal einem Argentinier begegnet? Wenn Sie einen sehen, gehen Sie auf die andere Straßenseite, denn das Argentinische ist ansteckend wie die Masern.«
    Er war blaß geworden, und seine Nasenflügel bebten. Er preßte die Zähne zusammen und machte ein angewidertes Gesicht. Ich war verwirrt von diesem neuen Ausdruck seiner Persönlichkeit und stotterte verlegen, es sei bedauerlich, daß es in Lateinamerika kein Autorenrecht gebe, das den geistigen Besitz schütze. Schon wieder war ich ins Fettnäpfchen getreten. »Darum geht es nicht, es macht mir nichts aus, kopiert zu werden«, erwiderte er noch wütender. »Der Künstler arbeitet nicht für den Ruhm, sondern aus Menschenliebe. Was will ich mehr, als daß mein Werk sich über die ganze Welt verbreitet, sei es auch unter anderem Namen. Was ich diesen Mistschreibern vom La Plata jedoch übelnehme, ist, daß sie meine Librettos verändern, daß sie sie vulgär machen. Wissen Sie, was die tun? Sie ändern nicht nur die Titel und die Namen der Personen. Sie versetzen sie auch noch mit diesen argentinischen Essenzen …“
    »Arroganz«, unterbrach ich ihn, sicher, diesmal ins Schwarze getroffen zu haben, »Kitsch«.
    Er schüttelte abfällig den Kopf und sprach mit tragischer Feierlichkeit, mit langsamer, hohler Stimme, die in seiner Kammer widerhallte, die beiden einzigen Schimpfworte, die ich ihn je sagen hörte: »Sauereien und Schwulereien.« Ich hatte große Lust, ihn auszuhorchen, um heraus zufinden, warum sein Haß auf die Argentinier heftiger war als auf andere Menschen, aber als ich ihn so völlig aufgelöst sah, wagte ich es nicht. Er machte eine Geste der Erbitterung und fuhr sich mit der Hand über die Augen, als wollte er gewisse Gespenster verscheuchen. Dann schloß er mit einem schmerzlichen Ausdruck das Fenster seiner Kammer, stellte die Walze der Remington fest und deckte sie ab, rückte sich die Schleife zurecht, nahm ein dickes Buch aus seinem Schreibtisch, klemmte es sich unter den Arm und bedeutete mir mit einer Handbewegung, wir sollten gehen. Er löschte das Licht und verschloß von außen sein Loch. Ich fragte ihn nach dem Buch, und er fuhr zärtlich mit der

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