Tante Julia und der Kunstschreiber
Flugzeuge oder beim Zoll beschädigt, und es gingen ganze Kapitel verloren; die Feuchtigkeit machte sie unleserlich, die Seiten gerieten durcheinander, oder die Mäuse im Lager von Radio Central fraßen sie auf. Das wurde natürlich immer erst im allerletzten Augenblick bemerkt, wenn Genaro sen. die Texte verteilte, und so entstanden äußerst schwierige Situationen. Man meisterte sie, indem man ein verlorenes Kapitel übersprang oder, in sehr schweren Fällen, Luciano Pando oder Josefina Sânchez krank werden ließ, damit in den nächsten vierundzwanzig Stunden die verschwundenen Gramme oder Kilos rekonstruiert oder ohne große Gewissens kon flikte einfach weggelassen werden konnten. Da außerdem die Preise des CMQ recht hoch waren, war es nicht verwunderlich, daß Genaro jun. sich überglücklich pries, als er Pedro Camacho und dessen wunderbare Begabung entdeckte. Ich erinnere mich noch sehr gut an den Tag, an dem er mir von dem radiophonischen Phänomen erzählte, denn es war genau der Tag, an dem ich beim Mittagessen Tante Julia zum ersten Mal sah. Sie war die Schwester der Frau meines Onkels Lucho und war am Abend vorher aus Bolivien gekommen. Gerade geschieden, wollte sie sich hier von ihrem ehelichen Mißerfolg erholen. »Eigentlich will sie sich einen neuen Mann suchen«, hatte Tante Hortensia, die spitzzüngigste meiner Verwandten, bei einem Familientreffen behauptet. Jeden Donnerstag aß ich bei Onkel Lucho und Tante Olga. An diesem Mittag traf ich die Familie noch im Schlafanzug an; sie beendeten die durchzechte Nacht mit scharfen Würstchen und kühlem Bier. Bis zum Morgengrauen waren sie aufgewesen, hatten mit Tante Julia geschwatzt und zu dritt eine Flasche Whisky geleert. Der Kopf tat ihnen weh, Onkel Lucho klagte, in seinem Büro gehe alles drunter und drüber, Tante Olga hielt es für eine Schande, mitten in der Woche so lange aufzubleiben, und Tante Julia, im Morgenrock, ohne Schuhe, dafür mit Lockenwicklern im Haar, packte ihren Koffer aus. Es störte sie nicht, daß ich sie in diesem Aufzug sah, in dem niemand sie für eine Schönheitskönigin gehalten hätte.
»Also, du bist der Sohn von Dorita«, sagte sie und schmatzte mir einen Kuß auf die Wange. »Du bist schon fertig mit der Schule, nicht wahr?«
Ich haßte sie tödlich. Meine leichten Zusammenstöße mit der Familie damals kamen daher, daß alle mich noch wie ein Kind behandelten und nicht als das, was ich war, nämlich ein ausgewachsener Mann von achtzehn Jahren. Nichts ärgerte mich so sehr wie dieses »Marito«; ich hatte immer das Gefühl, der Diminutiv stecke mich wieder in kurze Hosen. »Er studiert im dritten Jahr Jura und arbeitet als Journalist«, erklärte ihr Onkel Lucho und reichte mir ein Glas Bier. »Eigentlich siehst du noch aus wie ein Baby, Marito«, versetzte Tante Julia mir einen neuen Hieb.
Während des Mittagessens fragte sie mich in jener zärtlichen Art, der sich Erwachsene bedienen, wenn sie sich an Schwachsinnige oder an Kinder wenden, ob ich eine Freundin hätte, ob ich viel auf Partys ginge, welchen Sport ich triebe, und riet mir mit einer Gemeinheit, von der ich nicht wußte, ob sie beabsichtigt war oder nicht, die mich jedoch mitten ins Herz traf, ich solle mir, »sobald ich es könnte«, einen Schnurrbart wachsen lassen. Das stehe den dunklen Typen gut und werde es mir bei den Mädchen leichter machen.
»Der denkt nicht an Schürzen oder an Vergnügungen«, erklärte Onkel Lucho. »Er ist ein Intellektueller. Eine Erzählung von ihm ist in der Sonntagsausgabe von »El Comercio« erschienen.“
»Paßt bloß auf, daß uns Doritas Sohn nicht auf den ändern Bahnsteig gerät«, lachte Tante Julia, und ich empfand so etwas wie Solidarität mit ihrem Ex-Gatten. Doch ich lächelte und spielte mit.
Während des Essens erzählte sie ein paar scheußliche bolivianische Witze und machte sich über mich lustig. Als ich mich verabschiedete, schien es, als wolle sie sich für ihre Unverschämtheit entschuldigen, denn sie sagte mit einer liebenswürdigen Geste, ich könne sie einmal begleiten, sie gehe so gern ins Kino.
Ich kam gerade rechtzeitig bei Radio Panamericana an, um zu verhindern, daß Pascual die gesamten 3-Uhr-Nachrichten einer Schlacht zwischen Totengräbern und Leprakranken in den exotischen Straßen von Rawalpindi widmete, von der »Ultima Hora« berichtet hatte. Nachdem ich die 4-Uhr- und die 5-Uhr-Nachrichten fertiggestellt hatte, ging ich einen Kaffee trinken. In der Tür von Radio Central traf
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