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Tante Julia und der Kunstschreiber

Tante Julia und der Kunstschreiber

Titel: Tante Julia und der Kunstschreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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schließlich den Weg wählte, den er nicht hätte nehmen sollen, nämlich den, den der Wachtmeister mit seinem Körper verstellte. Er warf sich nicht gegen ihn, sondern versuchte, durch ihn hindurch zu entkommen. So unerwartet lief er los, daß Lituma ihn nicht festhalten konnte und der Mann gegen ihn prallte. Der Wachtmeister hatte sich voll unter Kontrolle, sein Finger zuckte nicht, es löste sich kein Schuß. Der Schwarze schnaubte, als er gegen ihn stieß. Lituma versetzte ihm einen Stoß, und er fiel wie ein Lappen zu Boden. Damit er ruhig bliebe, gab er ihm noch einen Tritt.
    »Steh auf«, befahl er ihm. »Du bist nicht nur verrückt, du bist auch noch dumm. Und wie du stinkst!«
    Er roch unbestimmt nach Teer, Azeton, Urin und Katze. Jetzt hatte er sich umgedreht und sah Lituma, den Rücken auf dem Boden, voll panischer Angst an.
    »Wo kommst du bloß her?« murmelte Lituma. Er trat mit der Taschenlampe etwas näher an ihn heran und betrachtete eine Weile verwundert dieses unglaubliche Kreuz und Quer von langen Striemen, das durchfurchte Gesicht, die kleinen Erhöhungen, die über seine Wangen, über die Nase, seine Stirn, sein Kinn liefen und sich am Hals verloren. Wie hatte ein Kerl, der so aussah und die Zwillinge unbedeckt herumhängen hatte, durch die Straßen von Lima gehen können, ohne daß ihn jemand anzeigte?
    »Steh endlich auf, oder du fängst dir eine«, sagte Lituma. »Verrückt oder nicht verrückt, ich bin es leid.« Der Mann rührte sich nicht. Er stieß jetzt Laute aus, ein unverständliches Murmeln, ein Schnurren, ein Zischen, etwas, das mehr mit Vögeln, Insekten oder wilden Tieren zu tun hatte als mit Menschen. Mit unendlichem Grauen starrte er noch immer auf die Taschenlampe.
    »Steh endlich auf, hab keine Angst«, sagte der Wachtmeister, streckte eine Hand aus und nahm den Schwarzen beim Arm. Der leistete keinen Widerstand, machte aber auch keine Anstrengungen, sich aufzurichten. Wie mager du bist, dachte Lituma, beinahe amüsiert über das unaufhörliche Jaulen, Gurgeln und Pfeifen des Mannes. Und Angst hast du. Er zwang ihn aufzustehen und konnte nicht glauben, daß er so leicht war. Er gab ihm nur einen kleinen Schubs in Richtung auf die Öffnung der Holzwand und merkte sogleich, daß er taumelte und fiel. Dieses Mal stand er aber unter großen Anstrengungen allein wieder auf, dabei stützte er sich auf ein Ölfaß. »Bist du krank?« fragte der Wachtmeister. »Du kannst ja kaum gehen, Zambo. Aber woher, zum Teufel, kommt so eine Vogelscheuche wie du!«
    Er schleppte ihn zur Öffnung, drückte ihn auf die Knie und zwang ihn, vor ihm auf die Straße hinauszukriechen. Der Schwarze stieß immer noch pausenlos Laute aus, als hätte er ein Stück Eisen im Mund und versuchte es auszuspucken. Ja, dachte der Wachtmeister, der ist verrückt. Der Nieselregen hatte aufgehört, aber jetzt fegte ein starker, schneidender Wind durch die Straßen und heulte um sie herum, während Lituma, den Schwarzen mit kleinen Stößen zur Eile antreibend, in Richtung Polizeiwache ging. Er fror unter seinem dicken Regenmantel.
    »Du mußt ja total erfroren sein, Junge«, sagte Lituma. »Nackt bei diesem Wetter und um diese Zeit. Wenn du keine Lungenentzündung kriegst, ist es ein Wunder.«
    Dem Schwarzen klapperten die Zähne. Er hatte die Arme über der Brust gekreuzt und rieb sich die Seiten mit seinen langen, knochigen Händen, als spüre er die Kälte hauptsächlich an den Rippen. Er schnarrte, schnaubte und schnatterte immer noch, aber jetzt wie für sich selbst, und bog gefügig dort ein, wo der Wachtmeister ihn hinschob. Auf der Straße waren weder Autos noch Hunde oder Betrunkene. Als sie auf der Wache ankamen –Lituma freute sich wie ein Schiffbrüchiger, der das Ufer erreicht, über die Lichter in den Fenstern mit dem öligen Glanz –, schlug der rauhe Glockenton der Kirche von Nuestra Senora del Carmen de la Légua z Uhr.
    Als der Wachtmeister mit dem nackten Neger erschien, fiel dem jungen Hauptmann Jaime Concho zwar nicht das Donald-Duck-Heft aus den Händen – es war das vierte, das er in dieser Nacht las, außer den drei Superman und den zwei Mandrakes –, aber er riß den Mund so weit auf, daß ihm beinahe der Kiefer aushakte. Die Polizisten Camacho und Arévalo, die eine Partie Dame spielten, rissen ebenfalls die Augen auf. »Wo hast du diese Vogelscheuche aufgegabelt?« fragte endlich der Hauptmann.
    »Ist das ein Mensch, ein Tier oder ein Ding?« fragte Manzanita Arévalo, stand auf und

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