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Tante Julia und der Kunstschreiber

Tante Julia und der Kunstschreiber

Titel: Tante Julia und der Kunstschreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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ich.
    »Und die da.« Er wies auf das Dach des Kühlhauses, und der Wachtmeister erkannte, wenn er seine Augen anstrengte, ein halbes Dutzend Geier, die Schnäbel zwischen den Flügeln, in Seiner geraden Linie zusammen gedrängt auf dem First des Wellblechdaches. Die müssen einen gewaltigen Hunger haben, dachte er, auch wenn sie erfrieren, sie bleiben da und wittern das Aas. Im fahlen Licht der Laterne unterschrieb Chato Soldevilla den Bericht mit einem zerkauten Bleistiftstummel, der sich [zwischen seinen Fingern verlor. Es gab nichts Neues, keine Unfälle, keine Vergehen, keine Trunkenbolde.
    »Eine ruhige Nacht, Herr Wachtmeister«, sagte er, als er ihn ein Jpaar Blocks weit bis zur Avenida Manco Cäpac begleitete. »Ich hoffe, es bleibt so, bis ich abgelöst werde. Dann kann meinetwegen die Welt einstürzen, zum Teufel auch.« Er lachte, als hätte er etwas sehr Witziges gesagt, und Wachtmeister Lituma dachte: Man muß ein Auge auf die Mentalität haben, die sich gewisse Polizisten leisten. Als hätte er seine Gedanken erraten, fügte Chato Soldevilla ernst hinzu: »Ich bin nicht wie Sie, Herr Wachtmeister. Mir gefällt das nicht. Ich trage die Uniform nur, um mir mein Brot zu verdienen.«
    »Wenn es nach mir ginge, würdest du sie nicht tragen«, murmelte der Wachtmeister. »Ich würde in der Truppe nur die behalten, die an die Sache glauben.«
    »Dann würde es ziemlich leer bei der Guardia Civil«, entgegnete Chato.
    »Lieber allein als in schlechter Gesellschaft«, lachte der Wachtmeister, und auch Chato lachte. Sie gingen im Dunkeln über das unbebaute Grundstück neben der Fabrik Guadalupe, wo die Straßenjungen immer mit Steinen Zielübungen auf die Laternen machten. In der Ferne hörte man das Rauschen des Meeres und dann und wann den Motor eines Taxis, das über die Avenida Argentina fuhr.
    »Sie hätten es wohl gern, wenn wir alle Helden wären«, sagte Chato unvermittelt. »Daß wir mit Leib und Seele diesen Schmutz hier verteidigen.“ Er deutete nach Callao, nach Lima, in die ganze Welt. »Danken die uns das vielleicht? Haben Sie noch nie gehört, was sie uns auf der Straße nachschreien? Achtet uns hier vielleicht irgend einer? Die Leute verachten uns, Herr Wachtmeister.«
    »Hier verabschieden wir uns«, sagte Lituma am Rand der Avenida Manco Câpac, »bleib in deinem Bezirk und reg dich nicht auf. Jetzt kannst du es nicht erwarten, aus der Truppe auszuscheiden, aber an dem Tag, an dem du deinen Abschied nimmst, wirst du leiden wie ein Hund. Genauso ist es dem Pechito Antezana gegangen. Er ist aufs Revier gekommen, um uns zu besuchen, und die Tränen sind ihm in die Augen gestiegen. ›Ich habe meine Familie verloren‹, hat er gesagt.« Lituma hörte Chato hinter sich grunzen: »Eine Familie ohne Frauen, feine Familie.«
    Vielleicht hat Chato recht, dachte Wachtmeister Lituma, während er über die verlassene Avenida in die Nacht hineinging. Es war tatsächlich so, die Leute mochten die Polizei nicht, sie erinnerten sich ihrer nur, wenn sie vor irgend etwas Angst hatten. Ja und? Er machte sich nicht kaputt, damit die Leute ihn achteten oder liebten. Mir sind die Leute vollkommen egal, dachte er. Warum faßte er dann den Dienst bei der Guardia Civil nicht auf wie seine Kollegen, indem er versuchte (ohne sich kaputt zu machen), das Beste daraus zu machen, sich auszuruhen oder ein paar schmutzige Soi nebenher zu verdienen, wenn die Obrigkeit nicht in der Nähe war? Warum, Lituma? Er dachte: weil es dir gefällt. Weil du deine Arbeit liebst wie andere Fußball oder Pferderennen. Er kam auf die Idee, das nächste Mal, wenn irgendein verrückter Fußballfan ihn fragen sollte: »Bist du für die Sportboys oder für Chalaco, Lituma?«, ihm zu antworten: »Ich bin für die Guardia Civil.« Im Nebel, im Nieselregen, in der Nacht lachte er zufrieden über seinen Einfall, und da hörte er das Geräusch. Er zuckte zusammen, seine Hand fuhr zum Halfter, und er blieb stehen. Es hatte ihn so überrascht, daß er sich beinahe erschrocken hätte. Nur beinahe, dachte er, du hast noch niemals Angst gehabt, und du wirst auch niemals welche haben; du weißt gar nicht, was das ist, Lituma. Zu seiner Linken war ein freies Feld und rechts die Masse des ersten Lagerhauses des Terminal Maritime. Von dort war es gekommen; sehr laut, ein Lärm von Kisten und Dosen, die im Fallen andere Kisten und Dosen mit sich rissen. Aber jetzt war alles wieder still, und man hörte nur das ferne Rauschen des Meeres und das Pfeifen des

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